Felix Leibrock

Lutherleben


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alles, was vor dem Unfall lag. Routinehandlungen dagegen funktionierten. Er arbeitete sich aus dem Bett empor und trottete zum Fenster, er aß manierlich, er konnte Zeitschriften lesen und kommentierte manche Meldung mit undefinierbaren Lauten. Manchmal suchte er Rosemaries Hand, drückte sie vorsichtig an seinen lädierten Körper oder lachte sogar mit ihr, wenn ihm etwas von der Gabel fiel. Die Ärzte wollten Rosemarie zunächst gar keine Auskunft geben, weil Wolfgang Trödler für diesen Fall nicht vorgesorgt hatte. Sie war keine Verwandte, sie war, aus Sicht der Ärzte, gar niemand mit Bezug auf ihn. Vor einem Jahr hatte die Ehefrau eines Patienten die Klinik mit einer Klage überzogen. Ein Arzt hatte einer weiblichen Person, die sich als Lebensgefährtin ausgab, Auskunft über den Patienten gegeben. Sie war die Geliebte. Auf dem Flur der Klinik begegnete sie der Ehefrau. Die erkannte die Konkurrentin und empörte sich, was sie hier zu suchen habe. Die angebliche Lebensgefährtin berichtete genüsslich vom Zustand des Mannes, den sie beide begehrten. Sie hatte einen Informationsvorsprung, sie war eher am Bett des Verunglückten. Das sollte die Ehefrau spüren. Seit der Klage der Ehefrau waren die Ärzte noch vorsichtiger mit ihren Auskünften. Erst als keine leiblichen Verwandten auftauchten und Wolle Rosemarie vor den Ärzten nicht zurückwies, erhielt sie einige Informationen. Dr. Heinrich, der Stationsarzt, sprach vom Amnestischen Syndrom und erläuterte die retrograde Amnesie, auch von posttraumatischen Belastungsstörungen war die Rede, – medizinische Fachbegriffe, die Rosemaries Angst eher verstärkten, ihr Wolle werde niemals wieder das volle Gedächtnis erlangen. Eine Prognose lehnte Dr. Heinrich ab.

      Gerne hätte sie Tag und Nacht an seinem Bett gewacht, gerne hätte sie den Augenblick erlebt, wenn schlagartig wieder die Erinnerung da war. Aber auch mit kleinen Schritten der Besserung wollte sie zufrieden sein. Doch auf dem Campingplatz begann die Saison und durch den Ausfall ihres Lebensgefährten war sie doppelt gefordert. Nur jeden zweiten, manchmal jeden dritten Tag reichte es für einen Besuch in der Klinik. Sie sah ihn dann die ganze Zeit über liebevoll an, streichelte seine Hand und flüsterte ihm warme Worte ins Ohr. Einmal, als sie ihn lange beobachtete, da glaubte sie, Wolle habe sich auch körperlich verändert. Was war mit seiner Stupsnase geschehen? Sie kam ihr jetzt größer, kantiger vor. Auch die Lippen erschienen ihr voller, wulstiger. Und die Augen, waren sie nicht ein Stück tiefer in die Höhlen zurückgetreten? Das kann doch gar nicht sein, schalt sie sich selbst, jetzt fange ich an zu spinnen. Doch mit Wolle geschah etwas, was sie nicht einordnen konnte.

      „Wir können uns den Zustand ihres Lebensgefährten nicht ganz erklären“, gab ihr Dr. Heinrich nach vier Wochen zu verstehen.

      „Nicht ganz, was soll das heißen?“ Sie war nervös.

      „Nun ja, retrograde Amnesie bedeutet häufig, der Patient kann sich nicht mehr an den Unfall erinnern, verliert aber nicht sein komplettes Langzeitgedächtnis. Herr Trödler aber ist fremd in seinem eigenen Leben, und es sieht so aus, als müsse er sich viele emotionale Kompetenzen neu erwerben. Sie sagen ja selbst, er erinnere sich nicht mehr an die vertraute Umgebung, diesen Campingplatz und alle diese Dinge. Hat er Sie denn mittlerweile wieder mit Namen angeredet?“

      Rosemarie schüttelte den Kopf.

      „Weiß er denn noch etwas aus seiner Kindheit? Aus den Jahren, bevor er Sie kennengelernt hat? Sie kennen sich doch erst ein paar Jahre, sagten Sie das nicht?“

      Sie schwieg und empfand die Fragen als peinlich. Sie wusste so gut wie nichts über Wolles Vorleben. Wieso sollte sich das gerade in seinem jetzigen Zustand ändern? Das war doch eigentlich nicht normal, mit einem Menschen zusammenzuleben, über den man fast nichts wusste!

      „Das Ganze ist etwas rätselhaft, weil wir keine Blutungen im Gehirn, keine Hypoxie oder andere Befunde haben, die einen Gedächtnisverlust in dieser Form plausibel machen.“

      Ein unsicheres Zucken ging durch Rosemaries Gesicht.

      „Passen Sie auf, Frau Aicher, wir haben bei unserem Konsilium erwogen, Herrn Trödler in eine spezielle Reha-Klinik zu verlegen. Die Klinik in Sachsen hat Einrichtungen und Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit ungewöhnlichen Formen der Amnesie. Dort wird er einige Zeit bleiben und wir hoffen auf die Regenerationsfähigkeiten des Gehirns.“

      Nach Sachsen, schoss es Rosemarie durch den Kopf. Sie klammerte sich an der Stuhlkante fest. Da kann ich ihn ja kaum besuchen, ohne Führerschein. Der Campingplatz, die bevorstehende Hochsaison, wer hält ihm dann die Hand? Wird er nicht völlig vereinsamen? Wer hilft mir an der Rezeption? Beim Einchecken der Gäste? Bei Reparaturen?

      „Frau Aicher, hallo, sind Sie einverstanden?“, holte sie Dr. Heinrich aus ihren Gedanken. Sie nickte. Was sollte sie auch anderes vorschlagen?

      „Gut, dann können Sie sich ja heute von ihm verabschieden und morgen bringt ihn ein Krankentransport in die Reha.“

      Dr. Heinrich wandte sich der Patientenmappe zu und füllte Formulare aus. Die farblose Gardine am Fenster wehte im Wind. Draußen nieselte es in dünnen Fäden vom Himmel. Leise verließ Rosemarie den Besprechungsraum. Wolle war schon eingeschlafen. Lange sah sie ihn an. Was war nur mit Wolle los? In welche Welt war er abgetaucht? Sie schloss die Tür und ging an der Glaskabine vorbei, hinter der sich die Schwestern aufhielten. Dr. Heinrich unterhielt sich angeregt mit ihnen. Eine Schwester in blauer Dienstkleidung aß ein Stück Pflaumenkuchen. Einige Fliegen schwirrten unruhig zwischen Flur und Glaskabine hin und her. Für einen Augenblick hatte Rosemarie einen schrecklichen Gedanken: Verschwieg man ihr in der Kinik etwas Entscheidendes? Hatten die Ärzte Wolle am Gehirn operiert, mit Fehlern, die sie jetzt vertuschen wollten?

      Am nächsten Morgen brachte ein Krankentaxi Wolfgang Trödler in die mehrere Autostunden von der Blauen Bucht entfernte Klinik. Der neue Patient ordnete sich gut in die Abläufe der Klinik ein, saß immer pünktlich im Speisesaal und nahm alle Therapien wahr. Manchmal klingelte das Stationstelefon für ihn. Wenn ihm die Schwester den Hörer brachte und sich am anderen Ende eine „Rosemarie“ meldete, sagte er gar nichts, drückte sie aber auch nicht weg. Die Frau redete von neuen Dauercampern, von einem Stromausfall, vom Zahnweh El Condor Pasas. Neugierig sah er bei diesen Worten aus dem Fenster in die hohen Pappeln des Parks.

      „Mein lieber Wolle, nächsten Mittwoch komme ich dich besuchen“, sagte die Stimme eines Tages.

      Der Angesprochene hatte keine Ahnung, welche Mühen es Rosemarie bereitet hatte, sich diesen Tag freizuschaufeln.

      „Wolle, hast du gehört, ich komme zu dir! Die Steiners nehmen mich auf ihrer Fahrt nach Hause mit. Stell dir vor, ihr Ingo macht in der gleichen Klinik wie du eine Reha. Dann werden dich die Steiners öfters besuchen!“

      Wolle starrte stumm das Telefon an.

      „Wolle, hallo, hörst du mich?“

      Rosemarie erwartete wie immer keine Antwort, wenn sie mit ihm telefonierte. Schon wollte sie auflegen, als in das leichte Rauschen der Funkverbindung zwei leise Worte vom anderen Telefon fielen:

      „Mit Akkordeon.“

      Rosemarie verschluckte sich fast vor Aufregung. War das Wolles Stimme? Oder hatte das jemand anderes für ihn geflüstert? Aber Akkordeon, das war doch sein Instrument.

      „Wolle, du möchtest das Akkordeon haben, habe ich das richtig gehört?“ Wolle hatte gesprochen, einen Satz mit Bezug auf eine versunkene Zeit, es kam ihr vor wie ein Wunder! Das Akkordeon! Die Krankheit Wolles machte sie bescheiden, demütig. Sie war dankbar für den geringsten Fortschritt.

      „Klar bringe ich das mit, lieber Wolle, klar doch, mein Liebster. Na klar, sehr gerne …“

      Glückswellen. Wolle begann, sich wieder zu erinnern. Längst hatte er sie weggedrückt.

      Der Mittwoch, an dem Rosemarie Wolle besuchte, verging für sie wie im Fluge. Wolle hatte sie zwar anfangs finster angeschaut, wie eine Fremde. Auch als sie ihm von der Blauen Bucht erzählte. Von den Gästen in der Seeklause, die sich schon freuten, wenn er ihnen wieder mal aufspielte. Sein Blick wirkte bedenklich, die Stirn zeigte eine bisher unbekannte Furche über der Nasenwurzel. Erst als die Steiners, die Ingo in seine Reha-Abteilung gebracht hatten, das Akkordeon ins Zimmer hereinschleppten, hellte sich seine Miene etwas auf.

      „Wir werden jetzt öfter bei dir reinschauen, Wolle“,