Felix Leibrock

Lutherleben


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eingereicht, ohne Erfolg. Aber ihr hatte die Klage geschadet, stand doch viel in der Lokalpresse darüber. Die Kritiker der Kirche freuten sich diebisch und erzählten bei allen Gelegenheiten: Da seht ihr mal, wie es in der Kirche zugeht, in diesem verlogenen Laden, da kloppen sich sogar die Pfarrer um die Stellen und so weiter. Ausgerechnet dieser Kollege, der jetzt an der Friedenskirche in der Stadt Dienst tat, nannte sie Schwester Harder, scheinheilig, falsch …

      „Die Laute war immer meine große Trösterin“, hörte sie jetzt den Patienten Trödler reden, „ich bin oft von dem geplagt, was hier in diesen Blättern ‚Depression‘ genannt wird. Es ist Satan, der sich schon früh in meiner Seele eingenistet hat. In meiner Kindheit war ich von diesen Bildern heimgesucht. Vom Satan, der als Tod seine Finger nach mir ausstreckt. In der Zeit meines Studierens im altehrwürdigen Erfurt wünschte ich mir manches Mal das Ende meines Lebens herbei. Was wäre aus mir geworden ohne Frau Musica, ohne meine Laute, die mich wegriss von Bildern entfleischter Gebeine, von frohlockend tanzenden Knochengerüsten, vom feurig einherfahrenden Satan, der seine Hand nach mir ausstreckte …“

      Er hatte sich in Rage geredet. Die Klinikseelsorgerin blickte ihn unsicher an. Alle ihre Vorsätze, Trödler von seinen Wahnvorstellungen abzubringen, waren zum Scheitern verurteilt. Viel zu überzeugend wirkte er in seiner neuen Identität.

      „Dass die Vögel der Sorge und des Kummers über deinem Haupt fliegen, kannst du nicht ändern“, rief sie halblaut in Trödlers Redefluss, „aber dass sie Nester in deinem Haar bauen, das kannst du verhindern.“

      Wie würde er auf ein Luther-Zitat reagieren? Zwar wollte sie Trödler nach wie vor nicht in seiner Luther-Identität anerkennen, aber sie war ratlos. Langsam beschlich sie auch eine Faszination. Woher nur wusste dieser Campingplatzwart so viel über den Reformator?

      Trödler hielt sich die Hand vor die Augen, als ob er sich konzentriere. Eine Schweißperle hatte sich auf seiner Stirn gebildet.

      „Ja, gewiss, solche Bilder habe ich vor langer Zeit gezeichnet, weil ich meine finsteren Täler im Sinne des 23. Psalms nicht anderen zumuten wollte. Meines Amtes ist es doch, die Menschen aufzurichten. Und es stimmt ja. Die Depressionen ebben irgendwann auch wieder mal gewisslich ab, vor allem wenn man im ständigen Gebet bleibt und im Vertrauen auf die erlösende Kraft unseres Herrn Jesus Christus der Dinge harrt, die da kommen.“

      „Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück“, flüsterte die Seelsorgerin vor sich hin. Was der Patient erzählte, leuchtete ihr ein. War er wirklich ein normaler Patient? Sie entschied sich, aufs Ganze zu gehen.

      „Halten Sie denn nach wie vor daran fest, das Entscheidende an Luthers Lehre sei die Rechtfertigungslehre?“

      Sie sah den Mann auf dem Bett gespannt an.

      „Luthers Lehre? Sie glaubt mir also nicht, dass ich dieser Luther bin!“ Für einen Augenblick zog Trödler den Mund schmollend zusammen. Doch dann fuhr er fort: „Ich weiß nicht, was Sie mit diesem schwierigen Wort meint: Rechtfertigungslehre. Wenn es bedeutet, das Entscheidende am Glauben sei es, Gott recht zu sein, vor ihm Gnade zu finden, dann stimme ich ihr zu. Doch ist es ihre Aufgabe als Schwester in Christus und Dienerin des Herrn, diese Botschaft in die Sprache unserer jetzigen Zeit zu übersetzen. Ich lese hier fliegende Blätter, die man jetzt zusammenheftet. ‚Das ist doch eine Zeitschrift, junger Mann‘, hat mir die dicke Frau in dem Käfig belehrend gesagt. Sie war wiederum ganz beleidigt, als ich vom Käfig sprach. ‚Das ist ein Kiosk, junger Mann‘, hat sie gemeint. Aber egal. Ich höre Nachrichten in diesem Ding hier, was die Schwester Radio nennt. Oder ich sehe Rätselsendungen im Gerät da oben, welches ihr Fernsehen nennt, alles wunderbare Erfindungen, um vielen Menschen an vielen Orten vom auferstandenen Herrn zu künden. Was ich geschrieben habe, ist in der Sprache der Menschen, die vor 500 Jahren gelebt haben. Heute verstehen das sicher viele nicht mehr. Das müssen die Jüngeren ändern, Leute wie Sie, Schwester in Christus! Wie alt ist Sie?“

      Sabine Harder schluckte. Ihr Hals war trocken und sie hätte gerne etwas getrunken, wollte aber das Gespräch nicht unterbrechen.

      „Achtundreißig“, antwortete sie und ging auf Trödlers Rede ein. „Ist es nur die Sprache? Oder sind es auch die Inhalte? Heute will doch kaum noch jemand einen gnädigen Gott, weil viele gar nicht mehr glauben, dass es einen Gott gibt!“

      Trödler-Luther wog den Kopf in seiner Hand hin und her. Er sah auf den Fernseher, wo ein Pferd leichtfüßig über den Wassergraben sprang.

      „Ja, Sie spricht ein wichtiges Thema an. Kann der Mensch ohne Gott leben? Sucht er sich nicht seine Götter, wenn er den einen Gott nicht glauben will? Ich bin sicher, jeder Mensch braucht Gott. Ersetzen wir mal das Wort Gott mit Geborgensein bei einer höheren Macht. Bei jemandem, der uns nicht so enttäuscht, wie es Menschen oft tun. Hier, in dieser Zeitschrift, ist überall die Rede von enttäuschten Menschen, enttäuscht vom Partner, von der Partnerin, von den Kindern, den Eltern, Freunden, Nachbarn. Da, lesen Sie Psychologie heute. Das Thema heißt: Enttäuschung als Chance. Ent-täuscht. Man hat uns eine Täuschung genommen. Das ist die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Ohne diese Täuschungen. Aber vorerst sind die Enttäuschten in ein Tief gestürzt. Wer holt sie da heraus? Auf wen ist in letzter Instanz Verlass?“

      In diesem Augenblick ertönte eine leise Melodie aus dem Lautsprecher über der Tür.

      „Oh, das Abendessen steht bereit. Ich muss gehen, sei Sie auf der Hut vor den Werken des Satans und halte Sie fest an dem, der Ihr das Leben geschenkt hat.“

      Trödler-Luther sprang erstaunlich behände auf und schlurfte aus dem Zimmer. Sabine Harder war viel ratloser als vor dem Gespräch. Vor dem Stationszimmer freute sie sich, Schwester Petra anzutreffen. Sie bat sie um die Telefonnummer von Trödlers Lebensgefährtin. Irgendwo in seinem Leben gab es einen Luther-Bezug, der jetzt auf unerklärliche Weise hervorbrach. Diese Rosemarie Aicher musste ihr weiterhelfen. Vor allem wollte sie erfahren, ob Wolfgang Trödler vor dem Unfall öfter von Satan gesprochen hatte. Der Satan war in seiner neuen Identität sehr präsent, und vielleicht war er es auch in der alten gewesen. Sie brauchte einen Punkt in seinem früheren Leben, an dem sie ansetzen konnte. Sie war dabei, in ein fremdes Leben einzudringen. Ein Unterfangen, das ihr eigenes Leben völlig verändern sollte. Noch ahnte sie nichts davon.

      V

      „Na, Rosemarie, was guggsche dann so traurisch?“

      Renate Omlor sah der Campingplatzbetreiberin ihre Sorgen an. Es war Freitagabend, ein heißer Sommertag ging zu Ende. Die Terrasse der Seeklause war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nasik, die aus Armenien stammende Aushilfe mit den rehbraunen Augen, trug in luftigem Kleid Dutzende Krüge mit frisch gezapftem Bier zum durstigen und lebhaft sich unterhaltenden Campingvolk. Untermalt wurde der Geräuschpegel von CD-Musik. Die Flippers, Ute Freudenberg, Udo Jürgens.

      „War schön, wenn manchmal Monsieur Wolle ier gespielt at!“, versuchten die Beauchamps aus Metz, Rosemarie ins Gespräch zu ziehen.

      „Dass kannsche laud saan“, pflichtete Richard Omlor bei, der wie alle Saarländer ungeniert in vollem Dialekt sprach. „Wenn der Wolle sei Schiffaklawier ausgepaggd hadd, do is die Poschd abgang, aba gewaldisch!“

      Rosemarie stocherte mit dem Löffel abwesend in ihrem Sex on the Beach. Eine Ärztin und eine Schwester Petra von der Reha-Klinik hatten sie angerufen. Sie war schockiert. Darüber zu reden, fiel ihr schwer. Sie schämte sich ein wenig. Was sollten die anderen von Wolle denken, wenn sie das hörten? Andererseits lief die Zeit in der Reha-Klinik ab, in einer Woche kam er zur Blauen Bucht zurück. Die Brüche, Prellungen, alles war geheilt. Nur die posttraumatische Belastungsstörung war geblieben und die Ärzteschaft stand vor einem Rätsel. So wenig er sich an sein Leben vor dem Unfall erinnern konnte, so präzise sprach er über Luthers Lieder. Dass er von sich behauptete, Martin Luther selbst zu sein, das musste doch allen auf dem Campingplatz den Eindruck vermitteln, er habe, ganz einfach gesagt, einen Dachschaden. Sie hatte keine Vorstellung, wie Wolle auf dem Campingplatz wieder arbeiten sollte, wenn er sich als Martin Luther empfand. Würde er dann wie der Reformator die Leute am Eingang mit Worten wie „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ begrüßen? Den Satz hatte sie im Internet gelesen,