Augenbrauen schlug eine Triangel an. Der Jüngste mit zitronengelbem T-Shirt und mehreren Lippenpiercings versuchte etwas unbeholfen, mit Kastagnetten Schritt zu halten. Harders schweifender Blick blieb beim vierten Mann haften. Seine mächtige Statur, sein grauer Vollbart ließen ihr keinen Zweifel, auch wenn er jetzt den blauen Bademantel gegen ein weites Hemd aus weißer Baumwolle eingetauscht hatte. Es war der Mann, der sie am Vorabend bis in den Schlaf hinein beschäftigt hatte. Mit seinem Akkordeon gab er den drei anderen Musikanten die Melodie vor. Eine Melodie, über die sie vor einer halben Stunde gepredigt hatte: Ein feste Burg ist unser Gott. Leise drückte Schwester Petra die Tür wieder zu.
„Wer ist der Mann im weißen Hemd?“, flüsterte die Klinikseelsorgerin, obwohl niemand zu sehen war.
„Das ist Herr Trödler“, erklärte die Schwester, „er hatte einen Unfall mit Schädel-Hirn-Trauma. Bei uns ist er, um die posttraumatischen Störungen abzubauen. Er spielt den ganzen Tag Akkordeon. Immer dieses eine Lied. Du musst das doch kennen. Ist doch wohl ein Kirchenlied. Weißt du, wie ihn die anderen Patienten nennen?“
Sabine Harder sah ihre Volleyballfreundin fragend an.
„Die nennen ihn Martin Luther. Und was glaubst du, wie er reagiert?“
Wieder spannte die Krankenschwester Sabine Harder auf die Folter.
„Na, beim letzten Mal, als ihn einer so nannte“, erlöste Petra die Pfarrerin, „da haben einige gelacht und er ist wütend geworden. Aber nicht, weil sie ihn so nennen. Nein, im Gegenteil, er ärgerte sich, weil sie die Sache nicht ernst nahmen. Ich bin Martin Luther und weiß nicht, was es da so blöd zu lachen gibt. Ich habe ein bisschen Respekt verdient angesichts meiner Leistungen, hat er gesagt.“ Petra verkniff sich mit Mühe ein Lachen.
Die Pfarrerin blickte auf den Park. Es war Mittagszeit. Die Patienten strömten in Richtung Speisesaal. Was war das für eine Erkrankung, an der dieser Herr Trödler litt, fragte sie sich. Vor Kurzem hatte sie in einer Zeitschrift einen Artikel über multiple Persönlichkeitsstörungen gelesen. War es das, was diesen Mann plagte? Das Entstehen einer zweiten Person im Gehirn zur Bearbeitung einer traumatischen Erfahrung? Aber dieser Herr Trödler wirkte heute gar nicht geplagt, im Gegenteil. Sein Musizieren, sein ruhiger und konzentrierter Blick strahlten eine innere Harmonie aus, so als ob da jemand mit sich im Reinen wäre. Wenn Luther die eine Persönlichkeit war, in der er sich zu Hause fühlte und mit Hilfe derer er ein Trauma abbaute, vor welcher anderen Persönlichkeit wich er aus?
Sabine Harder sah auf die Uhr. Zu Hause wartete ihre Familie auf sie. Sie ging zu ihrem Fahrrad. Neben ihr öffnete jemand ein Fahrradschloss. Es war Gudrun Wiegand, die Musiktherapeutin. Die Übungsstunde war vorbei. Sie wechselten ein paar Sätze. Wolfgang Trödler war seit drei Tagen in der Musikgruppe.
„Das Spiel mit dem Akkordeon hilft“, erläuterte die Therapeutin, „scheinbar abgestorbenes Gedächtnis zu reaktivieren. Ich bin zu ihm ins Zimmer gegangen und habe ihm einen Katalog mit Musikinstrumenten gezeigt. Erst beim Akkordeon hat er reagiert. Ja, das wolle er spielen. Wenige Tage später hat ihm die Lebensgefährtin sein Akkordeon gebracht. Allerdings hat die bisherige Reha-Zeit zu einem auch für mich überraschenden Ergebnis geführt.“
Sie hatte das Schloss um die Sattelstange befestigt und schob das Fahrrad aus dem Ständer.
„Herr Trödler erinnert sich nicht an sein bisheriges Umfeld, an seine Lebensgefährtin, an den Campingplatz, auf dem er gearbeitet hat. Alles ist noch wie weggeblasen. Dafür hat er aber erstaunliche musikhistorische Kenntnisse, obwohl er von Beruf Hausmeister auf einem Campingplatz ist. Stellen Sie sich vor, morgen will er mit den anderen Patienten ein neues Lied einüben. Das Lied, so sagte er uns, hat den Titel Es ist gewißlich an der Zeit. Er sagt, er habe die Melodie in Anlehnung an das Dies irae, dies illa aus dem 12. Jahrhundert komponiert. Ich bin schon gespannt, wie das klingen wird.“
Dies irae? Dies illa? Eine SMS ihrer 12-jährigen Tochter Swantje fragte drängelnd, wann sie endlich nach Hause komme. Dennoch eilte sie noch einmal in die Klinikkapelle. Sie blätterte im Gesangbuch und stieß mit einem leisen Aufschrei auf das Lied mit der Nummer 149. Es ist gewißlich an der Zeit. Am Ende der Strophen las sie atemlos, wer wann die Melodie kreiert hatte: Martin Luther, 1529.
Sie radelte nach Hause. Am nächsten Morgen musste sie das Gespräch mit Wolfgang Trödler suchen. Besser gesagt, mit Martin Luther. Jetzt huschte ein Lächeln über ihr Gesicht. Dass ich das noch erleben darf, zitierte sie einen Satz, den sie sonst bei Diamantenen Hochzeiten oder hohen runden Geburtstagen hörte. Doch in die fast heitere Vorfreude mischte sich ein Gefühl von Unsicherheit. Musste sie diesem Herrn Trödler nicht reinen Wein einschenken? Genaugenommen hatte sie etwas Angst vor dem Gespräch. Verletzte sie ihn nicht, wenn sie ihm die Illusion seiner scheinbaren Identität nahm? Ich werde ihm Fragen zu Luther stellen, die er nicht beantworten kann, nahm sie sich vor. Ein psychischer Zusammenbruch ist nicht auszuschließen, wenn er die Wahrheit erkennt. Ihr war jedenfalls klar, was sie ihm verweigern musste: Ihn als Martin Luther anzuerkennen und mit ihm auf dieser Ebene zu kommunizieren. Dieser Herr Trödler durfte nicht in religiöse Wahnvorstellungen abgleiten. Immerhin hatte sie eine positive Möglichkeit, ihn aufzufangen: Sie konnte ihm Wege zeigen, in der heutigen Zeit an Gott zu glauben, gerade auch mit Hilfe von Luthers Lehre. Ja, morgen werde ich dem Spuk ein Ende bereiten. Sie trat entschlossen in die Pedale.
IV
„Ja, dann kommen Sie mal herein.“ Sabine Harder hatte sich in der Tür kurz vorgestellt. Sie hatte eine weichere Stimme erwartet. Wolfgang Trödler sah sie emotionslos an.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach aufsuche, Herr Trödler.“ Sie schloss die Tür hinter sich und näherte sich dem Krankenbett, auf dem eine rot-weiß gestreifte Überdecke lag. Auch die Vorhänge waren in kräftigen Farben. Man spürte das Bemühen, die Atmosphäre eines Krankenhauses zu vermeiden. Der Patient saß mit angewinkelten Knien auf dem Bett, dessen Rückenteil hochgestellt war. Vor sich hatte er ein Exemplar von Psychologie heute aufgeschlagen, das er jetzt auf den Nachtschrank legte. Stumm zeigte er auf einen Stuhl und blickte zum unterhalb der Decke montierten Fernsehgerät. Tonlos flimmerten Bilder von einem Wettbewerb im Springreiten.
„Sie scheinen ja nicht einer Kirche anzugehören und haben auch nicht angekreuzt, dass Sie meinen Besuch wünschen“, versuchte sie einen Gesprächseinstieg und nahm auf dem angebotenen Stuhl Platz. Ihr Gegenüber blickte sie weiterhin völlig ohne Ausdruck an. Keinerlei Anstalten, auf die Bemerkung einzugehen. Nur die Lippen zuckten leicht nervös.
„Gut, Herr Trödler, ich möchte Sie gerne etwas fragen. Geht das?“ Keine Reaktion. Trödler starrte knapp an ihren Augen vorbei, vielleicht auf die Stirn, vielleicht darüber hinweg auf den Fernseher. Ein Pferd verweigerte gerade vor dem Doppel-Oxer.
„Herr Trödler, Sie spielen sehr schön Akkordeon“, nahm sie erneut Anlauf, „könnten Sie sich vorstellen, nächsten Sonntag im Gottesdienst hier in der Klinik ein oder zwei Lieder zu begleiten?“
Sabine Harder fixierte ihn mit ihren Blicken. Dieser Frage sollte er nicht ausweichen. Tatsächlich zeigte Trödler nach einigem Zögern eine Reaktion, allerdings eine, die sie überraschte. Das Zucken der Lippen wanderte in die Wangen hoch, dann lachte er laut in Staccato-Tönen, eine Tonleiter abwärts, immer wieder neu ansetzend. Sein Bauch hüpfte und lief Gefahr davonzuspringen, wenn er nicht die Hände über ihm wie einen Gürtel zusammengefaltet hielt. Nachdem das Lachen abgeebbt war, wechselte er blitzschnell in eine ernste Tonlage und sah sie streng an. Er schüttelte mehrfach den rechten Zeigefinger drohend hin und her und begann dann zu reden:
„Weiß Sie nicht, dass mein eigentliches Instrument die Laute ist? Doch was ist aus der Königin der Instrumente geworden? Wo bekommt man heute noch eine Laute her? Aber gut, das ist der Lauf der Dinge. Neue Zeiten, neue Instrumente. Akkordeon ist wunderbar. Aber im Gottesdienst, vor voller Kirche, tut mir leid, Schwester in Christus, ein absolut unerfüllbarer Wunsch. Sie möge verzeihen. Und eine Bitte: Ich bin kein Trödler. Nenn Sie mich bitte beim Namen. Bruder Martin oder Herre Doktor Luther, ich darf wohl bitten.“
Ihr Kopf schwirrte. Laute, das war doch in der Tat Luthers Lieblingsinstrument. Wie hatte er sie genannt? Schwester in Christus.