hier schauen konntest, mir kannst du nichts vorspielen. Raus mit der Sprache!«
»Na, so klein war ich nun auch nicht mehr«, protestierte ich und kam darauf gleich zur Sache. »Ich wollte dich nur mal fragen, ob du es für möglich hältst, dass man in Büchern reisen kann?«, stellte ich meine erste Frage spontan und so direkt, dass ich selber darüber erschrak.
Willi zog die Stirn in Falten, sagte dann aber zu meinem Erstaunen:
»Ja natürlich, ich selbst reise in jedes Buch, das ich lese. Das ist es doch, was ein Buch ausmacht. Der Leser kann sich mithilfe seiner Fantasie mitten in der Geschichte wiederfinden. Oder meinst du es etwa so wie in Die Unendliche Geschichte, in der der junge Held Bastian mit Figuren aus einem Buch spricht und am Ende selber in das Buch hineingeht?«
»Äh ... ja, genau das ... so was meine ich. Hältst du das für möglich?«
»Sicher, in der Fantasie ist alles möglich.«
»Und in der Realität? Denk doch mal an den ganzen Computerkram, Internet und E-Mails, oder was ist mit der Medizin? Künstliche Herzklappen, künstliche Arme, die sich durch Nervenimpulse vom Gehirn aus steuern lassen, Raumfahrt, all das war vor Kurzem noch Fantasie und Science-Fiction und jetzt ist es Realität.«
»Richtig, aber worauf willst du hinaus?«
Ich zögerte, doch dann ließ ich die Katze aus dem Sack, beziehungsweise das Buch aus der Tüte und legte es vor Willi auf den Tisch.
»Ach, du redest von dem Buch, das lässt dir wohl keine Ruhe.«
»So kann man es sagen«, erwiderte ich und schlug es auf. »Kannst du dich noch daran erinnern, dass es acht von diesen Titeln in dem Buch gab?«, fragte ich und tippte mit dem Finger auf den Titel Die Festung.
»Ja, natürlich, ich hatte sie früher mehrmals gelesen und neulich hast du sie mir ja wieder ins Gedächtnis gerufen.«
»Dann möchte ich dich bitten, das Buch einmal mehr durchzusehen.«
»Wenn es dir eine Freude macht«, meinte er, zuckte mit den Schultern und begann, die fünf Millimeter starken aluminiumähnlichen Seiten umzublättern. Als er die letzte Seite in Augenschein genommen hatte, bemerkte er:
»Oh, nur sechs? Wo sind die anderen zwei Gravuren geblieben? Soweit ich mich erinnere, fehlen Die Burg und Die Stadt.«
»Gutes Gedächtnis, Willi. Genau darüber wollte ich mit dir sprechen.«
»Hmm, da hatte ich das Buch so viele Jahre und nichts konnte ich darüber erfahren, geschweige denn, dass etwas damit passiert ist, und jetzt hast du es gerade mal ein paar Wochen in den Fingern und schon ist was Unbegreifliches passiert. Was hast du getan?«
»Getan habe ich eigentlich nichts ... wie soll ich sagen? Ich bin lediglich mit dem Buch auf dem Bauch eingeschlafen, und als ich wieder aufgewacht bin, war jedes Mal ein Titel verschwunden.«
»Einfach so?«
»Einfach so, nur ...«
»Nur was?«
»Nur hatte ich jedes Mal so etwas wie einen ziemlich heftigen Traum, der eben kein Traum war, sondern Wirklichkeit. Ich erlebte zwei fantastische Abenteuer. Ich kämpfte gegen einen skrupellosen Marquis auf seiner Burg und vertrieb eine Bande Outlaws aus einer Stadt im Wilden Westen.«
Die Falten auf Willis Stirn vertieften sich. Er senkte den Blick und schaute auf Cappuccino und Kekse, die noch unangetastet auf dem Tisch standen. Stumm nahm er einen Keks und biss genüsslich hinein, anschließend trank er einen Schluck Cappuccino. Ich griff ebenfalls nach meiner Tasse Kaffee und aß das letzte Stück von meinem Käsekuchen. Nachdem Willi die offiziellen drei Kekse verputzt hatte, lehnte er sich zurück, und faltete die Hände auf dem Bauch. Er holte tief Luft und sagte mit gespielter Empörung:
»Nick, wenn ich dich nicht schon so lange kennen würde, dann würde ich sagen, du nimmst gerade einen alten Mann gehörig auf den Arm.« In seiner Stimme schwang Sorge mit: »Bist du überarbeitet? Solltest du vielleicht doch mal Urlaub machen? Ich kann dich in der Buchhandlung gerne vertreten.«
»Ich weiß, dass du mich sofort und auch liebend gerne vertreten würdest, aber das ist wirklich nicht das Problem«, entgegnete ich – wohl etwas heftiger als beabsichtigt, denn Willi sah mich mit einem nachdenklichen »Hmm« durchdringend an.
»Obwohl ich mich mein ganzes Leben in Fantasiewelten bewegt habe«, setzte er bedächtig an, »bin ich doch stets Realist geblieben. Ich kann zwischen Realität und Fiktion unterscheiden, und was du mir da erzählst, gehört für mich nicht in den Bereich der Realität.«
»Fakt ist, ich habe das Gefühl, mehrere Tage in einer Geschichte gelebt zu haben, und wenn ich wieder aufwache, sind hier nur ein paar Minuten vergangen. Das könnte natürlich auch ein fantastischer Traum gewesen sein, aber was ist mit der Veränderung des Buches? Wieso sind die Gravuren verschwunden?«
Willi schaute nachdenklich an die Caféhausdecke, dann wanderte sein Blick zu dem Buch und ging weiter zu den Keksen. Seine Hand langte in das Körbchen und stibitzte einen weiteren heraus, den er schnell in seinem Mund verschwinden ließ. Noch während er kaute schlug er das Buch auf und fuhr die Inschriften mit den Fingern ab, gerade so, wie ich es schon an die hundertmal getan hatte. Er blätterte es durch und strich ebenfalls über die glatten Seiten, die noch vor Kurzem Gravuren geschmückt hatten.
»Du willst mir also erzählen, dass du in dieses Buch hineingereist bist wie Bastian ins Land Phantásien?«
»So in etwa, ja!«
Willi klappte das Buch zu. »Jetzt lass dir nicht jeden Krümel einzeln aus der Nase ziehen. Es ist an der Zeit, dass aus den Krümeln ein Keks wird und du mit der ganzen Geschichte rausrückst.«
»Das will ich ja, aber nicht hier, denn es wird wohl etwas länger dauern, dir alles zu erzählen. Immerhin begreife ich es ja selber noch nicht. Willst du am Samstagnachmittag zu mir kommen? Da können wir ausgiebig reden.«
»Samstag? Heute ist erst Mittwoch, so lange willst du mich auf die Folter spannen?«
»Drei Tage wirst du das schon aushalten. Stell dir einfach vor, ich wäre ein Buch, das du unbedingt weiterlesen willst, aber dir fehlt die Zeit dazu.«
»Für ein Buch habe ich immer Zeit«, erwiderte er bestimmt, »aber sei’s drum, ich warte also. Hast du nicht Lust, am Samstag nach Ladenschluss zu uns zum Mittagessen zu kommen? Doris beschwert sich sowieso schon die ganze Zeit, dass ihr Junge so lange nicht mehr bei uns war.« Ich grinste. Für Doris werde ich wohl auch mit sechzig noch ihr Junge sein.
Deutlich entspannter als zu Beginn des Gesprächs platzte ein »Samstag! Mittagessen im Hause Funke – hört sich gut an« aus mir heraus.
***
Drei Tage später stellte ich mein Fahrrad vor Willis Haustür ab und klingelte.
»So kenne ich meinen Nick, pünktlich auf die Minute«, begrüßte mich Doris und schloss mich in die Arme.
»Hallo Doris«, sagte ich und streckte meine Nase in den Hausflur, »das riecht ja wieder köstlich. Ich hab mich schon den ganzen Tag auf deine Kochkünste gefreut.«
»Na, dann komm rein, mein Junge. Wir können gleich essen.«
Ich schlenderte ins Esszimmer und Doris ging in die Küche. Willi saß bereits am Tisch und las in der Tageszeitung.
»Da bist du ja endlich«, sagte er, sah von der Zeitung auf, faltete sie zusammen und legte sie auf den Tisch, dabei sah er mich an. »Lass uns schnell essen, dann können wir in mein Arbeitszimmer gehen und reden.«
»Von wegen schnell essen! Ich habe den ganzen Vormittag in der Küche verbracht und ihr werdet euch unterstehen, alles runterzuschlingen«, protestierte Doris und betrat mit einer Suppenterrine in den Händen das Zimmer.
»Nein, natürlich werden wir dein Essen wie immer ganz in Ruhe genießen«, beruhigte ich die Köchin und setzte mich mit an den Tisch. Doris stellte die Schüssel ab und nahm