aus.
»Trommle weiter, oder es wird dir so ergehen wie den beiden hier«, fauchte ein Suppenjunge.
Mindestens genauso überrascht wie unser Rhythmusgeber, starrte ich noch immer auf den am Boden liegenden Peitschenmann.
»Los Junge, greif dir den Schlüssel«, zischte der Kerl neben mir.
Schlüssel? Welchen Schlüssel? Ich schaute mich hektisch um. Ah, da ... er hing am Gürtel des Peitschenschwingers. Rasch griff ich danach. Die Kette war gerade lang genug, ich öffnete das Schloss und wir konnten die Kette aus den Ringen ziehen.
Mein Rudernachbar, der das Zeichen zum Angriff gegeben hatte, hieß übrigens Kapitän Quinn. Seinen Namen erfuhr ich zwar erst zu einem späteren Zeitpunkt, aber der Einfachheit halber werde ich ihn jetzt schon so nennen. Kapitän Quinn übernahm das Kommando, wie es sich für einen Mann seines Standes gehört. Er bedeutete uns, leise zu sein. Während der Trommler weiter den Takt schlug, als sei nichts vorgefallen, schlichen zehn von uns die Treppe nach oben. Der Rest ruderte weiter, damit sich die Riemen weiter bewegten und die Geschwindigkeit nicht zu stark nachließ.
***
Es war früh in den Morgenstunden, die ersten Sonnenstrahlen krochen gerade über den Horizont. Auf dem Vordeck entdeckten wir zwei Matrosen und wir sahen den Steuermann auf dem Steuerdeck. Doch er war nicht alleine, denn bei ihm standen ebenfalls zwei Seeleute. Kein Lüftchen war zu spüren, die Segel waren eingeholt. Wahrscheinlich mussten wir deshalb so hart rudern. Ich blickte mich um und beobachtete, wie Kapitän Quinn ein paar Männern Zeichen gab. Vier von ihnen schlichen daraufhin an die zwei Matrosen im Bug heran, während vier weitere auf die Brücke krochen. Im Nu waren die Männer an Deck überwältigt und lagen gut verschnürt am Boden. Das alles geschah völlig lautlos. Keiner hatte einen Mucks von sich gegeben. Kurz darauf kam Kapitän Quinn auf mich zu.
»Komm du mal mit«, forderte er mich auf. Leise stiegen wir die Treppe zur Brücke hinauf. Oben angelangt, zeigte er auf das große Steuerrad.
»Aber ich kann nicht ...«, begann ich, doch er unterbrach mich.
»Doch, du kannst. Du brauchst nur das Rad auf dieser Position zu halten, das wirst du doch wohl schaffen – oder?«
Zögernd griff ich nach dem Rad.
»Wo sind wir hier eigentlich?«, fragte ich den Kapitän.
Der lachte leise. »Wo wir sind? Das hast du nicht mitbekommen? Mann, die haben dir wirklich übel mitgespielt. Wir sind auf der Galeere des größten Piratenjägers der Karibik – Kapitän Loco. Doch wenn ich dich so ansehe, hat er sich bei dir bestimmt vergriffen«, sagte er und beäugte mich von oben bis unten. Kopfschüttelnd und leise lachend ließ er mich alleine mit dem großen Rad in den Händen.
Ich versuchte, das zu tun, was er mir aufgetragen hatte. Ich hielt das Rad fest, ich klammerte mich regelrecht daran. Plötzlich hörte ich Schreie an Deck. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und sah, wie einige Männer an Deck getrieben wurden.
Stimmen schwirrten durcheinander, ansonsten geschah nichts. Nach einer Weile kam ein stämmiger Kerl, den ich schon im Ruderraum gesehen hatte, auf mich zu.
»Mach, dass du nach unten kommst, Käpt’n Quinn sagt, ich soll jetzt das Ruder übernehmen.«
Erleichtert löste ich meine verkrampften Hände vom Steuerrad und stieg die Treppe herunter. Dort sah ich Kapitän Quinn. Gebannt starrte er auf die eine Tür unter der Brücke. Plötzlich wurde sie aufgestoßen und ein Mann im Nachthemd wurde aus der Kabine gestoßen.
»Hier Käpt’n, sehen Sie, was wir hier Niedliches haben!«, grölte einer der beiden Männer, die hinter dem Gefangenen standen. Kapitän Quinn trat näher.
»So schnell ändert sich alles, Kapitän Loco! Hübsches Hemdchen übrigens.«
»Quinn, hätte ich Sie doch gleich über die Planken gehen lassen!«
»Hätten Sie vielleicht machen sollen, aber aus Fehlern kann man lernen. Sie waren einfach viel zu gierig, Sie wollten auch mein Kopfgeld einstreichen. Jetzt sehen Sie, was Ihre Gier Ihnen eingebracht hat.« Kapitän Quinn lächelte, dann drehte er sich zu seinen Männern. »Los, bindet ihn an den Mast!«, befahl er, »und bringt die anderen runter zum Rudern!«
Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da hörte ich eine Stimme aus dem Ausguck »Wind zieht auf!« rufen.
»Na, da habt ihr ja mehr Glück als wir«, meinte Kapitän Quinn zu Kapitän Locos Männern, die gerade nach unten gebracht wurden. Danach wandte er sich seiner Mannschaft zu. »Dann mal los, Männer, setzt die Segel und machen wir, dass wir Kordina so schnell wie möglich erreichen.«
Nach diesen Worten herrschte auf einmal ein wildes Durcheinander, zumindest sah es für einen Ahnungslosen wie mich so aus. Tatsächlich aber saß jeder Handgriff, jeder wusste, was er zu tun hatte. Nur ich war wie ein Praktikant an seinem ersten Tag, der nutzlos rumsteht, weil sich keiner um ihn kümmert. Als die Segel gesetzt waren, konnte auch ich den leichten Wind in meinem Gesicht spüren. Ich setzte mich auf eine Kiste, atmete tief durch und schaute an mir runter. Ich trug eine weit geschnittene rotbraune Stoffhose, die bis über meine Knie ging, an den Füßen befanden sich Schnürsandalen. Meinen Oberkörper schmückte ein dunkelblaues Hemd. In Gedanken vertieft schob ich das linke Hosenbein hoch und entdeckte die Schürfwunde am Knie. Ich hatte also meine Verwundung aus der realen Welt mitgenommen. Eine interessante Entdeckung!
Plötzlich trat jemand mit Wucht gegen mein Sitzmöbel. Ich erschrak!
»He, du fauler Hund, was ist mit dir? Glaubst du, du bist hier, um dich zu erholen? Mach dich gefälligst an die Arbeit!«, raunzte mich Kapitän Quinn an.
»Würde ich ja gerne, aber was soll ich tun?«
»Erst einmal aufstehen, wenn dein Kapitän mit dir spricht«, sagte er und trat ein weiteres Mal gegen die Kiste, fast hätte er sie unter mir weggeschossen und ich wäre auf dem Boden gelandet. Ich sprang auf. »Schon besser, und nun sag mir, was deine Aufgabe auf einem Schiff ist?«
»Ich habe keine!«
»Es heißt Sir!«
»Sir, ich habe keine Aufgabe. Ich bin kein Seemann … Sir.«
Der Kapitän musterte mich erneut. »So, du willst mir also erzählen, dass Kapitän Loco eine verfluchte Landratte gefasst hat?«
»Wenn Sie es so ausdrücken wollen.«
»Wenn Sie es so ausdrücken wollen – Sir!«
»Genau das – Sir.«
Mann, habe ich hier etwa den durchgeknallten Sergeant aus Full Metal Jacket vor mir?
Ein weiterer Mann kam zu uns.
»Hier Käpt’n, mit besten Grüßen aus Kapitän Locos Kajüte«, sagte er und hielt dem Kapitän einen Becher hin. Doch dieser gab ihn an mich weiter.
»Hier, trink.«
Dankend nahm ich den Becher entgegen und setzte ihn an. Ich hatte einen ganz trockenen Mund und freute mich auf das Wasser. Doch es war kein Wasser. Noch ehe ich den beißenden Geruch wahrnahm, spürte ich den ersten Schluck scharf und heiß in meinem Rachen brennen.
»Na, was ist, du Landei? Ist dir das Gebräu zu stark?«, höhnte Kapitän Quinn lautstark.
»Es ist etwas anderes, als ich erwartet hatte.«
»Ach nee, was hat der feine Herr denn erwartet? Vielleicht eine Tasse heiße Schokolade?« Die beiden Seemänner brachen in Gelächter aus.
»Na, lassen wir das Bübchen mal in Ruhe«, er nahm mir den Becher aus der Hand und trank ihn in einem Rutsch aus. Anschließend hob er den Deckel von einem Fass ab und tauchte den Becher hinein.
»Hier, nimm das, das ist wohl eher was für dich.« Erneutes Gelächter. Jetzt war ich es, der den Becher in einem Rutsch austrank. Das kühle Wasser rann die Kehle hinunter und erfrischte mich, das war eher nach meinem Geschmack.
»Und