Adharanand Finn

Ekiden


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doch nach vielen Jahren hinter dem Schreibtisch eines Londoner Verlags bin ich verweichlicht und auch deutlich rundlicher als früher. Die Tage, an denen ich gerne lief, liegen hinter mir.

      „Nein“, antworte ich und kratze mich im Nacken.

      Stattdessen positioniert er mich vor seiner Schule, drückt mir einen Regenmantel in die Hand, der mich vor dem leichten Nieselregen schützen soll, und gesellt sich zu seinem Team. Wie sich herausstellt, ist ein Ekiden ein Langstreckenstaffellauf. Jede Stadt in Japan scheint so einen Ekiden zu veranstalten, und die Menschen beteiligen sich alle in irgendeiner Form daran. Wenn sie nicht selbst laufen, dann bieten sie sich als Streckenposten an oder kommen zumindest zum Wettkampf, um die Teilnehmer lautstark anzufeuern.

      Ich stehe an der Mauer und nicke und verbeuge mich, während die Leute unter ihren Regenschirmen an mir vorbeigehen. Die Veranstalter und Offiziellen tragen passende gelbe Regenmäntel. Im Schulhof hinter mir versammeln sich alle. Durch das Gittertor beobachte ich, wie die Athleten in ihren Shorts und Sporttrikots auf dem nassen Schotter den Hof hinauf- und hinuntersprinten und sich auf das Rennen vorbereiten. Viele von ihnen scheinen Schüler der Mittelschule zu sein, doch es nehmen auch Männer und Frauen aller Altersklassen daran teil. Dann stellen sie sich auf, und als der Startschuss ertönt, ergießen sie sich wie ein Fluss aus dem Schulhof auf die Straßen der Stadt.

      Langsam dringt der Regen durch meine dünnen Schuhe, und meine Füße werden ganz kalt, während ich auf der leeren Straße warte. Die Startläufer tragen ein Band, genannt Tasuki, das sie im Laufe des Rennens an ihre Teamkameraden weitergeben müssen, ähnlich dem Stab bei Staffelläufen in der Leichtathletik. Irgendwann sollte das Feld wieder an mir vorbeikommen, darunter auch mein Bruder.

      Bis dahin vertreibe ich mir die Zeit damit, auf und ab zu marschieren, um mich warmzuhalten. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht ein älteres Ehepaar unter zwei zusammenpassenden Regenschirmen und blickt gelegentlich die Straße hinauf. Es dauert fast eine Stunde, bis die Läufer auftauchen. Sie bewegen sich die Straße entlang, angefeuert von den Menschen am Straßenrand. Als mein Bruder dann auftaucht, überragt er mit seinen gut 1,92 Metern alle um ihn herum. Sein Gesicht ist rot, und der Regen läuft ihm in die Augen, doch er grinst mich an, als er an mir vorbeigaloppiert.

      „Weiter so, Vinny“, rufe ich und wünsche mir plötzlich, selbst mitzulaufen. Es sieht so aus, als würde es Spaß machen. Zumindest mehr Spaß, als hier mit meinen kalten Händen, die ich in die Achselhöhlen gepackt habe, herumzustehen. Ich verspüre dieses Verlangen, meine Jacke wegzuwerfen und einfach loszulaufen. Es ist ein Gefühl, das ich oft habe, wenn ich bei einem Rennen zusehe und nicht selbst mitlaufe. Dann frage ich mich immer, warum ich eigentlich nicht selbst laufe. Dieser Wettkampf hier ist eine so freundliche, gemeinschaftliche Veranstaltung, an der sich die ganze Stadt beteiligt, dass ich mich irgendwie ausgeschlossen fühle, während ich nur so an der Mauer lehne.

      Erst viele Jahre später soll ich erneut die Chance bekommen, einem Team beizutreten und bei einem Ekiden in Japan mitzumachen. Doch da bin ich vorbereitet, gut 13 Kilo leichter und ganz erpicht darauf, loszulaufen.

      1

      Ich betrete das an der Themse liegende Tower Hotel in London durch eine Drehtür. Es ist ein warmer Morgen im April 2013, nur wenige Tage vor dem London Marathon. Meine Beine fühlen sich frisch an. Ich bin bereit für das Rennen und kann die leicht knisternde Atmosphäre im Hotel der Eliteathleten bereits spüren.

      Gleich beim Eingang, neben einer geschwungenen Marmortreppe, steht eine Gruppe von Leuten, tief ins Gespräch vertieft. Eine Person erkenne ich. Es ist Steve Cram, mein Laufidol aus Kindheitstagen. Er ist nun natürlich deutlich älter, seine Haare sind kürzer und glatter als zu seiner Glanzzeit, doch es ist derselbe Mann, dem ich vor so vielen Jahren im Fernsehen dabei zusah, wie er auf der Jagd nach neuen Weltrekorden in seinem gelben Trikot auf der Laufbahn dahinflog. Ich gehe weiter in die Lobby.

      Als ich so dastehe, spazieren mehrere Läuferinnen und Läufer an mir vorbei. Unter anderem zwei Kenianerinnen in übergroßen Anoraks. Ihre streichholzdünnen Beine sehen aus, als würden sie unter dem Gewicht der Anoraks nachgeben. Sie sprechen so leise miteinander, dass man sie fast nicht hören kann. An der Rezeption unterhalten sich gerade zwei Holländer laut lachend mit einem Mann mit Sonnenbrillen und Kapuze über dem Kopf. Erst als ich seine Stimme höre, erkenne ich, dass es sich um Mo Farah handelt.

      Es hat sich einiges verändert, seit ich vor zwölf Jahren verkatert an der Schulhofmauer in Japan stand. Irgendwann hatte ich wieder mit dem Laufen begonnen. Behutsam zuerst. Meinen ersten 10K lief ich dann in 47 Minuten. Für die nächsten beiden Jahre war das auch meine Bestmarke. Doch Schritt für Schritt ging ich mit mehr Ernst an die Sache heran, wurde Mitglied in einem Laufverein und ging auf immer längere Läufe. Dann übersiedelte ich kurzerhand nach Kenia, um dort zusammen mit den großen Läufern der Kalenjin im Rift Valley zu trainieren. Der Grund dafür war einerseits, meinen eigenen Laufstil zu verbessern, doch vielmehr war es die Mission, das Geheimnis rund um diese großartigen Langstreckenläufer zu enträtseln und zu verstehen. Ich wollte herausfinden, wer sie waren, was sie taten und was sie bewegte. Als ich wieder zurück nach England kam, schrieb ich das Buch Im Land des Laufens: Meine Zeit in Kenia.

      In ein paar Tagen würde es wieder zum großen Duell zwischen einer Gruppe Kenianern und Äthiopiern kommen, die beide einen der renommiertesten Stadtmarathons der Welt für sich entscheiden wollten. Ich würde auch mitlaufen, irgendwo in der Masse der schwitzenden Menschen, die sich in einem ewig langen Schlauch hinter ihnen entlangziehen würden. Ich hoffte darauf, meine bisherige Bestzeit von 2:50 Stunden zu unterbieten. Dafür hatte ich hart trainiert, meine Ernährung umgestellt und mir die richtige Ausrüstung besorgt. Doch während ich heute in der Lobby des Tower Hotels stehe, interessiere ich mich weder für mich noch für die Kenianer. Heute halte ich Ausschau nach den Japanern.

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      Etwas passiert gerade in Japan. Für Außenstehende ist es leicht zu übersehen. Fast jedes große Straßenrennen der Welt wird von einer endlos scheinenden Abfolge von superschnellen Kenianern oder Äthiopiern gewonnen. Niemand anderer scheint eine Chance zu haben.

      Bei den Frauen kamen 2013 elf der Top-100-Marathonläuferinnen aus Japan. Und wieder war es deutlich die dritthöchste Zahl hinter Kenia und Äthiopien.

      Im gleichen Jahr, ein Jahr nach den Olympischen Spielen 2012 in London, hatte es kein einziger britischer Läufer geschafft, einen Marathon in unter 2:15 Stunden zu beenden. In den Vereinigten Staaten blieben zwölf Athleten unter dieser Zeit. Doch in Japan, einem Land, das weniger als halb so viele Einwohner wie die USA hat, lag die Zahl viermal höher. Dort hatten 52 japanische Männer einen Marathon in unter 2:15 absolviert.

      Der Gewinner, der sich um eine Nasenlänge in einem Sprintfinish gegen vier andere Athleten durchsetzt, überquert die Ziellinie in 62:36 Minuten. Das ist ziemlich schnell, doch das eigentlich Interessante passiert erst danach. Wenn man sich eines der Spitzenrennen irgendwo auf der Welt ansieht, kommen die ersten paar Läufer mit einem recht großen Vorsprung ins Ziel. Oft ist der Vorsprung so gewaltig, dass sie sogar Zeit haben, sich umzuziehen, Interviews zu geben, etwas zu trinken und ein kurzes Warm-down zu machen, bevor die nächsten Läufer im Ziel eintrudeln. Hier ist das genaue Gegenteil der Fall. Die Läufer kommen unentwegt,