Adharanand Finn

Ekiden


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am liebsten in das metallene Bettgestell beißen möchte. Glücklicherweise laufen die Kinder, die sich tragischerweise bereits an die verrauchte Luft gewöhnt haben, den Gang rauf und runter und spielen mit den anderen Kindern im Zug.

      Ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht mehr weiß, wie lange ich das noch ertragen kann, als der Zug plötzlich einen Ruck macht und sich langsam wieder in Bewegung setzt.

      Am nächsten Morgen sind wir schon ganz aufgeregt und freuen uns darauf, Russland mit der koreanischen Fähre zu verlassen. Als wir Wladiwostok hinter uns lassen und die frische Luft und die warme Sonne auf unseren Gesichtern spüren, können wir endlich wieder befreit durchatmen. Nach zwei Tagen auf See erreichen wir Japan.

      3

      Wir nehmen den Hochgeschwindigkeitszug nach Kyoto, unserem Zielort. Das Innere des Zugs ist so breit wie ein Flugzeug, und auch die Sitzplätze sind in zwei Reihen zu je drei Sitzen angeordnet. Der Zug ist voll mit Leuten, die gerade von der Arbeit kommen. Kaum jemand spricht. Es ist eine Art ruhiger Tagesausklang. Ich sitze neben Lila, meiner ältesten Tochter. Sie liest. Auf der anderen Seite von mir sitzt ein Mann, der mit seinem Telefon spielt. Ich blicke an ihm vorbei durch das Fenster und beobachte, wie Städte und Ortschaften in der bläulichen Abenddämmerung vorbeiziehen. Wir fahren auf Höhe der Hausdächer. Jenseits der beleuchteten Straßen und Gebäude erheben sich bewaldete Berge, wie große Schatten, umgeben von weißem Nebel.

      „Argh, aufhören“, höre ich Uma rufen, die etwas weiter hinten im Waggon sitzt. „Das ist ungezogen, Ossian. Umbaya.“

      Dem folgt ein herzzerreißendes Jaulen als Antwort.

      „Ach du liebe Zeit“, sage ich zu Lila. Sie grinst und amüsiert sich darüber, dass ihre beiden Geschwister das einzige Geräusch verursachen, das neben dem sanften Brummen des Zugs zu hören ist.

      Hinten bricht ein richtiger Streit aus. Lila wirft einen Blick den Mittelgang hinunter und sieht mich dann glucksend an.

      „Die sind so laut“, sagt sie.

      Es ist vier Wochen her, seit wir mit unseren Koffern den Zug am Tiverton Parkway in Devon bestiegen haben. Nun sind wir endlich an unserem Ziel.

      „In Kürze erreichen wir Kyoto“, ertönt es auf Englisch durch die Sprechanlage des Zugs, der nun immer langsamer wird. „Der Ausstieg befindet sich auf der rechten Seite.“

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      Wir schleppen unsere Koffer aus den hell beleuchteten Tiefen des Bahnhofs durch ein riesiges unterirdisches Einkaufszentrum hinaus in die warme Nacht. Alles in allem 13 Koffer und Taschen, wovon einige so schwer sind, dass sich beinahe der Boden des Waggons senkte, als wir sie in den Zug hievten.

      Ossian, unser Jüngster, sitzt auf seinem Koffer und betrachtet die hohen Gebäude ringsherum.

      „Wohin fahren wir jetzt?“, fragt er.

      „Wir sind da“, sage ich. „Nur noch eine letzte Taxifahrt, dann ist es geschafft.“

      Wir stehen neben einem riesigen Parkplatz. Ein Taxi nach dem anderen fährt an uns vorbei, doch keines bleibt stehen. Sie sehen uns, mit dem vielen Gepäck und den Kindern, und fahren weiter. Es sind kleinere Limousinen mit weißen Schutzbezügen auf den Sitzen und uniformierten Fahrern, die weiße Handschuhe tragen. Die beleuchteten Taxischilder auf den Taxidächern sind herzförmig. Endlich hält eines vor uns an.

      „Hoteru?“, fragt der Fahrer.

      Ich gebe ihm einen Zettel, auf dem eine Adresse auf Japanisch steht. Wir haben uns für ein paar Tage bei einem alten Freund namens Max einquartiert. Der Fahrer studiert den Zettel ein paar Sekunden, nickt, nimmt die schwersten Koffer und hebt sie in den Kofferraum seines Wagens.

      Es ist nicht einfach, alles zu verstauen, doch er gibt sich Mühe. Einige unserer Taschen stellt er zu unseren Füßen hin, andere müssen wir auf den Schoß nehmen. Dann sind wir und unser Gepäck endlich verstaut. Wir fahren durch das Zentrum Kyotos in Richtung Norden, vorbei am kaiserlichen Palast, Fahrrädern und Menschen, die in Gruppen – wie Touristen – durch die Straßen ziehen, sowie an jungen Männern, die in Schaufenstern stehen und Comics lesen.

      Im Wagen selbst hören die Kinder fasziniert der japanischen Stimme des Navis zu. Der Fahrer stellt den Bildschirm auf Fernseher. Es läuft gerade eine Gameshow. Man hört viel Gelächter und sieht, wie die Kandidaten immer wieder am Boden liegen. Draußen auf der Straße wird es langsam leerer, und auch die Häuser werden kleiner, bis wir nach einer etwa 25-minütigen Fahrt anhalten. Wir erkennen die Silhouette eines Mannes, der an der Straße steht. Ein Engländer in Leinenhosen und einem weißen T-Shirt.

      Ich hatte Max zum ersten Mal vor zwölf Jahren in London getroffen. Beide folgten wir damals den Lehren eines Inders namens Prem Rawat, der über die Essenz des Lebens predigte, über die wunderschöne Realität der menschlichen Existenz und so weiter. Max schwebte herum wie eine erleuchtete Seele und meditierte jeden Tag stundenlang. Er hatte so eine ruhige Ausstrahlung, dass es schon wieder etwas verstörend wirkte.

      Ich weiß gar nicht einmal mehr, was er arbeitete, wenn er überhaupt einen Job hatte. Im Alter von 16 Jahren schien Max nur ein weiterer Teenager ohne Zukunft zu sein. Seine Eltern hatten sich getrennt, als er noch ein Kind war, und seine Lehrer an der Schule in Leeds hielten ihn für einen Unruhestifter. Nachdem er bei seinen GCSE-Tests durchgefallen war, aber trotzdem an der Schule bleiben wollte, um sein Abitur zu machen, sagte man ihm, dass dies reine Zeitverschwendung wäre.

      „Es war eine Herausforderung“, erzählte er mir. „Und das war genau das, was ich damals brauchte.“

      Zwei Jahre später studierte er am renommierten Somerville College in Oxford Biologie.

      Eines Abends, in einem Londoner Café, sagte er, dass er sich für eine Stelle als Englischlehrer in Japan beworben und eine Zusage bekommen habe. Er denke gerade darüber nach, ob er den Job annehmen solle. Das Nächste, was ich hörte, war, dass er das Land verlassen hatte. Nun, zwölf Jahre später, steht er vor seinem Haus in Kamigamo, einem wohlhabenden Bezirk im Norden Kyotos, und ist nicht damit zufrieden, wo der Taxifahrer angehalten hat. Auf Japanisch bittet er ihn, ein paar Meter weiter vor zu fahren.

      Max spricht nicht nur fließend Japanisch, er hat auch ein Buch in dieser Sprache geschrieben und hält Vorträge über Kindheit, Lebensweise, Träume – eigentlich über alles, was die Leute von ihm hören wollen. Er scheint sich seine eigene kleine Gruppe an treuen Anhängern geschaffen zu haben – Maxiten, wenn man so will.

      „Kommt herein“, sagt er, während er einen unserer Koffer nimmt und uns in einen kleinen Vorbau führt, wo wir unsere Schuhe ausziehen. Madoka, seine Frau, und sein zweijähriger Sohn Sen begrüßen uns, als wir das Haus betreten und eine Treppe nach oben gehen, die in einen kleinen, mit Tatamimatten ausgelegten Raum führt, in dem sich ein niedriger Tisch und einige Kissen befinden. Es ist noch immer sehr warm, deshalb haben wir auch nichts dagegen, als Max uns mit eigenartig riechendem Wasser besprüht.

      „Effektive Mikroorganismen“, erklärt er uns. „Gute Bakterien. Das hilft nach einer langen Reise.“

      Die Kinder kichern und genießen das kühle Spray. Mikroorganismen sind, wie wir bald erfahren, eines von Max’ Lieblingsthemen. Sie können für alles verwendet werden. Er trinkt sie, badet in ihnen und besprüht Dinge mit ihnen. Inklusive Menschen.

      Etwas später begleite ich Max auf einem kleinen Spaziergang durch die Nachbarschaft. Mein Kopf ist nach unserer Reise um die halbe Welt immer noch nicht zur Ruhe gekommen, und alles erscheint ein wenig wie aus einem Comic. Die Straßen sehen so ordentlich und ruhig aus, das Straßenlicht wie mit Buntstift gezeichnet, und die Blätter des nahe gelegenen Waldes scheinen so, als wären sie einzeln gezeichnet worden. Hie und da fährt jemand auf einem quietschenden Fahrrad an uns vorbei.

      Am Ende von Max’ Straße steht ein Schrein, umgeben von Bäumen. Max verbeugt sich höflich am mit roten Säulen eingefassten Eingang und deutet mir, dasselbe zu tun. Drinnen fühlt sich die Stille