Adharanand Finn

Ekiden


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führte das Harvard Institute of Economics eine umfassende Studie durch, die zum Ergebnis kam, dass Japan eines der homogensten Länder der Welt ist. Das ganze Konzept von Japan als einzigartige, isolierte Insel wurde schon so oft von Japanern und Nicht-Japanern beschrieben, dass es sogar ein eigenes Genre dafür gibt: Nihonjinron. Dieses Konzept wird allerdings von einigen Gelehrten als veraltete Form eines kulturellen Nationalismus abgetan. Aber noch bevor ich in Japan ankam, stieß ich bereits auf unzählige Türen, die sich auf meiner Suche nach einem Ekiden-Team, dem ich beitreten könnte, vor meiner Nase schlossen. So wie Brendan Reilly es in seiner E-Mail geschrieben hatte: „Japan kann manchmal eine frustrierend verschlossene Gesellschaft sein.“

      Just zu jenem Zeitpunkt, als wir am Beginn unserer Reise nach Japan mit dem Eurostar kurz davor waren, in den Channel-Tunnel einzufahren, rief mich Max am Handy an.

      „Dhar, ich habe ein Haus für euch gefunden, aber du musst mir jetzt sagen, ob ihr es nehmen wollt oder nicht.“

      Inzwischen zog die Landschaft Kents am Fenster vorbei. Uma fragte mich, ob ich ihr etwas vorlesen würde, und Ossian sprang laut singend auf seinem Sitzplatz auf und ab.

      „Das Haus ist wirklich schön und nicht besonders teuer. Und es liegt nicht weit von der Schule entfernt“, meinte Max.

      „Wir nehmen es“, antwortete ich.

      Es war die erste konkrete Zusage, die ich bekam, seit ich mit den Arrangements für unseren Umzug nach Japan begonnen hatte. Und ich wollte diese Chance nicht verpassen. Abgesehen davon hatten wir bereits so viel dem Zufall überlassen, dass es im Moment egal war, wo wir wohnen würden. Meiner Meinung nach hatten wir kaum eine andere Wahl, als auf Gott zu vertrauen. Und auf Max.

      Ein paar Sekunden später fuhr der Zug in den Tunnel ein, und die Verbindung riss ab.

      „Sieht so aus, als hätten wir ein Haus, wenn wir dort sind“, sagte ich zu Marietta, die vor mir saß.

      „Wirklich? Wie ist es?“

      „Keine Ahnung.“

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      Das Haus ist schmal und hoch und passt genau zwischen zwei ähnliche Gebäude in einer kleinen, steilen Sackgasse in Kyotanabe. Um dorthin zu gelangen, zwängen wir uns alle in Max’ kleinen roten Sportwagen. Kaum sitzen wir drin, besprüht er wieder zuerst uns mit effektiven Mikroorganismen und dann das Auto. Er besprüht sogar die Reifen und erklärt uns, dass sie sich dadurch weniger schnell abnutzen.

      Wir fahren durch die Stadt, vorbei am kaiserlichen Palast und hinaus in die Vororte südlich von Kyoto, wo wir auf die Autobahn auffahren, die sich auf hohen Betonpfeilern in die Lüfte erhebt. Die Straßen biegen und kreuzen sich, dass man sich beinahe nicht mehr auskennt, und ehe wir uns versehen, befinden wir uns wieder auf Straßenniveau, wo wir an eintönigen Flächen mit Reisfeldern und vereinzelten Lagerhäusern, Scheunen und alten Plakatwänden vorbeikommen.

      Nach etwa zehn Minuten erreichen wir wieder eine verbaute Gegend, mit großen Einkaufszentren, Parkplätzen und einem McDonalds Drive-Through.

      „Willkommen in eurer neuen Nachbarschaft“, sagt Max, während Marietta und ich nervöse Blicke austauschen.

      Die Kinder sind ganz aufgeregt, als wir an einer Feuerwehrstation vorbeikommen. Die Feuerwehrautos glänzen rot und sind vielleicht halb so groß wie die, die wir aus England kennen. Auch ein kleiner Ambulanzwagen parkt vor der Station.

      Während wir weiterfahren, ertappe ich mich dabei, vergeblich nach einem Park zwischen den vielen Gebäuden Ausschau zu halten oder nach Anzeichen einer Grünfläche, auf der man spielen, laufen oder sich irgendwie anders vom Betondschungel erholen könnte.

      An einem Tante-Emma-Laden biegen wir rechts ab und fahren einen steilen Hügel hinauf, vorbei an der Steiner-Schule und in ein Wohnviertel. Wir befinden uns noch immer in den Sommerferien, und die Straßen sind ruhig. Es hat etwa 30 Grad. Die Häuser stehen nahe an der Straße und so knapp nebeneinander, dass kaum eine Person dazwischenpasst. Bei fast allen Häusern sind die Rollläden unten.

      Schließlich halten wir vor dem Haus, das für die nächsten sechs Monate unser Heim sein wird. Wir steigen aus. Wir sind sicher ein Kuriosum hier in der Gegend, doch es gibt kein Anzeichen dafür, dass uns jemand heimlich beobachtet. Max schließt die Eingangstür auf. Drinnen ist es dunkel. Die Jalousien sind unten, und das Haus ist komplett leer. Keine Möbel, Töpfe oder Pfannen. Nicht einmal ein Kühlschrank oder eine Waschmaschine.

      „Lasst uns einkaufen gehen“, sagt Max.

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      Und so beginnt unser neues Leben in Japan. Bevor wir England verließen, las ich das Buch Mister Aufziehvogel des japanischen Autors Haruki Murakami. Es spielt in einer unscheinbaren Nachbarschaft in einem japanischen Vorort wie diesem hier. Doch hinter der scheinbaren Normalität des Alltagslebens verbirgt sich eine dunkle, verstörende und surreale Welt. Während wir unsere Futons auf dem nackten Holzboden ausrollen, frage ich mich, worauf wir in unserer kleinen Sackgasse stoßen werden.

      Die erste Person aus unserer Nachbarschaft, die sich uns vorstellt, ist eine Dame namens Rie, die nebenan wohnt. Es ist eine kräftige Frau mit einem breiten, freundlichen Lächeln. Und sie spricht sogar Englisch. In ihrer Jugend, bevor sie heiratete und Kinder bekam, hatte sie ein halbes Jahr in London verbracht. Während der nächsten sechs Monate sollte sie unsere gute Fee sein. Immer, wenn es Schwierigkeiten gibt, wir Briefe in unserem Briefkasten nicht lesen können oder wissen wollen, wie wir unsere Rechnungen bezahlen müssen, uns Bücher aus der Bibliothek ausborgen wollen oder einen Arzt suchen, erscheint sie wie aus dem Nichts an unserer Tür und bietet uns ihre Hilfe an.

      Ein paar Monate, nachdem wir eingezogen sind, bestellen wir unabsichtlich eine große Menge an Meeresfrüchten. Als es an der Tür läutet, steht ein Mann mit einer Schachtel und einem Zettel da. Ich verstehe kein Wort von dem, was er sagt, und so nehme ich beides entgegen. Meine Kinder wollen sehen, was sich in der Schachtel befindet. Wir nehmen den Deckel ab und sehen, dass die Box bis oben hin mit Eis und Plastiktüten mit Wasser gefüllt ist, in denen sich noch lebende Schalentiere räkeln.

      „Marietta“, rufe ich, „hast du das bestellt?“

      Das Einzige, was uns in so einem Fall übrig bleibt, ist, hinüber zu Rie zu gehen. Sie sieht sich den Zettel an und meint, dass wir wahrscheinlich das falsche Kästchen auf einem Formular angekreuzt haben. Wir verwenden sehr oft einen örtlichen Zustelldienst, der uns Essen liefert. So bestellen wir auch einmal unabsichtlich 100 Zwiebeln. Wir hatten kaum ein paar davon aufgebraucht, als in der folgenden Woche bereits eine weitere Großlieferung Zwiebeln auftaucht.

      Mit Meeresfrüchten ist das etwas anderes, die müssen schnell verzehrt werden, vor allem wenn man sich ansieht, wie sie sich noch in den Tüten bewegen. Unser Problem ist allerdings, dass wir alle Vegetarier sind. Rie lächelt und meint, wir sollen uns keine Sorgen machen. Sie kauft uns die Schalentiere ab und wird sie selbst zum Abendessen zubereiten.

      „Meine Kinder werden sich freuen“, sagt sie, als hätten wir ihr damit einen großen Gefallen getan.

      Die anderen Leute, mit denen wir in den ersten Tagen Bekanntschaft schließen, sind eine Familie, die gegenüber wohnt und deren drei Kinder ebenfalls die Steiner-Schule besuchen. Wie es der Zufall so will, geht eine der Töchter in Lilas und eine in Umas Klasse. Sie haben auch einen 15-jährigen Sohn. Die Familie spricht kein Wort Englisch, doch als sie hören, dass ich nach Japan gekommen bin, um ein Buch über das Laufen zu schreiben, ist Yoshiko, die Mutter, ganz verzückt. Wir brauchen ein Weilchen, um zu verstehen, was sie uns sagen will, doch es stellt sich heraus, dass ihr Sohn oft zusammen mit seinen Freunden läuft. Und zwar jeden Morgen vor Schulbeginn. Um halb sechs.

      Zuerst glaube ich, dass ich sie missverstanden habe. 15-jährige Burschen, die jeden Morgen bei Sonnenaufgang miteinander laufen gehen? Wirklich? Sie gehören nicht zu einem Verein, sie tun es nur, weil es ihnen Spaß mache, meint sie. Das kann ich mir nicht vorstellen, und so frage ich sie, ob ich vielleicht einmal mitlaufen dürfe. Sie sieht mich an, als