Langsam ging der Winter vorbei und es wurde wieder Frühling. Die schwere und dunkle Zeit des Winters schwand mit jedem Tag ein wenig mehr und damit die drückende Last der kalten Jahreszeit. Endlich konnte er wieder auf die Felder, einfach nur raus aus der Enge des Dorfes und des Hauses.
IX
An einem sonnigen Frühlingstag, es war schon recht warm und die ersten Blumen waren schon längst im Garten bunt anzusehen, da spielte Gretge mit einem niedlichen Kätzchen vor der kleinen Seitentür. Über der Tür stand am Querbalken mit Stecheisen eingearbeitet „arbeite und bete“ sowie die Jahreszahl Ao 1322.
Plötzlich rannte das Vieh schnurstracks in das Haus des gegenüberliegenden und von den Eltern ungeliebten Nachbarn. Gretge gefiel das gar nicht, denn sie wollte mit dem kleinen Miezekätzchen spielen. Sie stand auf und lief hinterher und verschwand im Hause des Nachbarn. Dass es ihr verboten war, hatte sie vergessen, denn ihr Spielzeug war weg.
Mette hat das Verschwinden ihrer kleinen Tochter, als sie Holz von draußen hereinholen wollte, nicht gleich bemerkt. Die Stille auf dem Hof wurde plötzlich durch Geschrei im Nachbarhaus unterbrochen. Mette horchte auf und schaute hinüber zum anderen Hof, denn sie kannte die Stimme.
Dann sah sie ihre kleine Gretge weinend aus dem Haus laufen. Sie rannte direkt in die Arme ihrer Mutter. Die Tür des Nachbarhauses schloss sich, aber niemand war zu sehen.
Sie nahm ihre Tochter mit ins Haus und bemerkte erst hier, dass das Kleidchen von Gretge zerrissen war und sie an Armen und Brust blaue Flecken hatte. Gretge weinte noch immer und Mette nahm sie auf den Arm und tröstete sie.
Sie holte ihr ein anderes Kleidchen und zog es dem Kind an. Die beiden waren alleine im Hause, und Mette war froh darüber. Die Schwiegereltern und ihr Mann waren mit dem Knecht zur Schwester von Claus gefahren, um dort einen Geburtstag zu feiern.
Da Mette erst vor wenigen Wochen einem kleinen Knaben das Leben geschenkt hatte, konnte sie noch nicht mit. So blieb sie mit den beiden Kindern alleine im Haus zurück. Sie drückte Gretge fest an sich und strich ihr mit der Hand tröstend über das Haar. Dabei fragte sie sich, was im Nachbarhaus wohl vorgefallen war. Sie überlegte, ob sie es ihrem Mann nach dessen Rückkehr erzählen sollte. Sie traute sich aber nicht. Sie hatte Angst, dass die alten Geschichten von ihrer Mutter und Großmutter wieder auf den Tisch kamen. Sie litt sehr darunter und beschloss zu schweigen. So in sich versunken, liefen ihr Tränen über die Wangen.
Gretge bläute sie ein, es niemanden zu sagen. Dann machte sie ihrer Tochter, wie sie es von der Mutter gelernt hatte, aus Kräutern Umschläge, damit die blauen Flecken schneller verschwänden und das Mädchen bald keine Schmerzen mehr haben würde. Sie nähte schnell das zerrissene Kleidchen wieder zusammen, damit es niemand bemerkte.
Zwischendrin schaute sie nach dem kleinen Sohn, der nach dem Schwiegervater Tietke getauft worden war. Er schlief fest in seinem kleinen Bettchen, in dem schon Gretge als Säugling gelegen hatte. Es war so alt, dass Mette dachte, schon ihr Claus könnte darin gelegen haben.
Von diesem Tag an war dass allen bekannte fröhliche und unbeschwerte Lächeln von Gretges Gesicht für Jahre ver-schwunden.
Am Abend kam die Familie zurück. Gretge und Tietke hatte sie schon schlafen gelegt. Sie spann den Faden und saß am Feuer, als Claus eintrat. Er fragte, ob es ihr gut ginge und sie erzählte ihm, dass sie ihr Tagwerk geschafft habe und die Kinder schon zur Nacht gebettet seien.
Nachdem alle wieder im Hause waren, aßen sie zu Abend und gingen alsbald selbst zur Nachtruhe. Mit Kerzen und Holz musste man sparsam sein. Außerdem mussten alle am nächsten Morgen wieder früh raus auf die Felder.
X
Mette konnte mit keinem Menschen im Dorf, auch nicht mit ihrem Mann Claus über ihre Sorgen reden. Deswegen besuchte sie ab und an ihre Schwester in Bülste oder ihren Bruder in Höperhöfen. Mit den beiden konnte sie sich aussprechen und ausweinen. Bei den Besuchen nahm sie Gretge stets mit, denn sie fürchtete, das Mädchen könnte doch noch über den Vorfall reden. Auf Gretges Brüderchen passte dann die alte Margarethe auf. Sie war zu den Kindern sehr lieb, und auch Mette hatte in ihr eine gute Schwiegermutter, auch wenn es am Anfang sehr schwer war, es ihr recht zu machen.
So ging Mette auch an diesem Morgen zu Fuß los. Sie würde bis Mittag bei der Schwester sein. Da das Gespann auf dem Hof benötigt wurde, wollte sie sich nicht fahren lassen. Sie fühlte sich dann auch frei, konnte die Vögel beobachten und Heilkräuter sammeln. Die Stellen – an denen sie wuchsen - kannte sie gut. Das hätte sie mit dem Wagen, den der Großknecht fuhr, nicht gekonnt.
So schlenderte sie auf den Wegen und Pfaden alleine um-her. Ein Weg führte sie durch das Hochmoor, wo kein Pferd und kein Wagen hätten fahren können, wo es aber die richtigen Kräuter gab. Dieser Weg war den Menschen in der Gegend wohl bekannt.
Viele hatten sich durch das Hochmoor einst vor den kaiserlichen Truppen versteckt und damit gerettet. Ihr Bruder Harm selbst hatte sich mit seiner Familie hier versteckt und war unbeschadet auf seinen Hof zurück-gekommen, den er geplündert vorfand, aber nicht abge-brannt.
Auf der halben Wegstrecke und nachdem sie das Hochmoor hinter sich gelassen hatte, kam sie an einem Stein vorbei, der die Grenze der beiden Ämter Ottersberg und Rotenburg markierte. Er stellte aber auch die Grenze zwischen zwei Bistümern dar, denn Rotenburg gehörte zum Bistum Verden, welches nach dem großen Krieg von den Schweden kassiert und zum Herzogtum umbenannt wurde, während Ottersberg zum Erzbistum Bremen gehörte, welches ebenfalls zum Herzogtum wurde. Das war alles große Politik, wovon Mette aber nichts wissen wollte.
Sie traf an diesem Morgen nur wenige Menschen. Gretge, die Mette mehr tragen musste, als ihr lieb war, begleitete sie. Sie zeigte ihrer Tochter die Natur, erklärte ihr dabei Bäume, Sträucher und Kräuter sowie deren Nutzen und Wirken. Gegen Mittag sah sie schon das Dorf ihrer Schwester Tipke, deren Hof gleich am Ortsrand lag.
Es war ein ganzer ungeteilter Hof, wie der ihres Mannes. Das Fachwerk war sehr alt, das Dach strohgedeckt und die Giebelzier anders als in Westeresch, indem die Pferdeköpfe nach außen und nicht nach innen schauten. Die Menschen erzählten sich, dass es eine Tradition aus alten Zeiten war, dass verschiedene Stämme durch bestimmte Zeichen an den Giebelzierden zu erkennen waren.
Zwar wusste niemand mehr, welcher Stamm die Pferdeköpfe nach außen und welche sie nach innen trug. Gewiss war man sich aber darin, dass sie friedlich neben-einander gelebt haben mussten, denn die Nachbardörfer hatten schon mal eine andere Zier.
Es gab auch Dörfer, die hatten gar keine Pferdeköpfe, nicht einmal Windfedern.
Der Hof war von alten Eichen, die teilweise mehr als 250 Jahre alt waren, umgeben. Der Hofplatz war mit einer Steinmauer umrahmt, wobei die Steine lose aufeinander einen halben Meter hoch gelegt waren.
Der Hof hatte ein großes Vierfachständerhaus, wie es im Land überall zu finden war. Es gab noch ein kleines Backhaus, in dem wöchentlich einmal Brot gebacken wurde, wie auch ein Schauer, in dem die Fuhrwerke untergestellt waren. Ihr Schwager hatte zwei gute Acker-pferde, zehn Milchkühe und einen Ochsen. Die Hühner liefen frei auf dem mit Kopfsteinpflaster ausgelegten Hofplatz herum.
Eine Scheune und ein Häuslingshaus standen unweit vom Haupthaus entfernt. Beim letzten Mal hatte die Sau sieben Ferkel geworfen, und Mette hatte eines als Geschenk mit nach Hause gebracht.
Die Nachbarn waren neidisch, was Mette an deren Bemerkungen deutlich spüren konnte. Dennoch war es ihr egal, na ja, nicht so ganz, aber ein Hausschwein war schon ein kleiner Reichtum, auf den man gut aufpassen musste.
Zwischen den großen Eichen wuchsen Hestern und allerlei weitere kleine Bäumchen.
Nun waren sie fast am Hoftor angekommen, als sie ihre Schwester schon aus dem Haus kommen und winken sah.
Sie nahm Gretge auf den Arm und ging einen Schritt schneller. Vor ihr stehend, nahm die Schwester beide in den Arm und freute sich sehr über den unerwarteten