Julia schmunzelte: „Und er hält Sie für einen Hallodri, Ihr Gedächtnisschwund sei eine Vorgaukelei.“
Vlassi verzog das Gesicht: „Vorgaukelei, was ist denn das für ein Wort?“
„Ein schönes altes Wort, das viel zu selten benutzt wird“, erklärte Julia, „ständig wird uns doch was vorgegaukelt.“
„Richtig“, stimmte Vlassi zu, „ich hab’s ja am eigenen Leib erfahren.“
Julia legte ihren Stift zur Seite: „Zur Sache! Einen Gedächtnisschwund, wie Sie ihn vorgeben, gibt es nicht. So habe ich es vom Psychotherapeuten Niebergall erfahren.“
„Obwohl Ihr Vater ihn empfohlen hat“, erwiderte Vlassi, „kann ich für diesen Doktor Niebergall keine Reklame machen. Und das nicht nur, weil er mich hinausgeworfen und den Teufel empfohlen hat.“
Julia verstand ihren Vlassi nur zu gut. Auch sie war von dem Psychiater ja nicht besonders angetan gewesen beim Gespräch im Eltviller Café.
„Eine Koryphäe ist er sicher nicht“, bemerkte sie, „aber immerhin hat er erkannt, dass Sie gefährdet sind und es nicht einmal merken würden.“
Vlassi schaute Julia an und murmelte: „Gefährdet? Vielleicht hat er da gar nicht so unrecht.“
Er dachte dabei lediglich an seinen wirren Gedankenstrom auf der Herfahrt im Auto.
„Sie finden selbst, dass Sie gefährdet sind?“, fragte Julia verwundert.
Vlassi zog sich an den Schreibtisch heran und teilte offenherzig mit: „Na ja, so ein bisschen plemplem schien ich ja gewesen zu sein. Ich war sogar ein Toter ohne Erinnerung …“
Julia fiel ihm ins Wort: „Wollen Sie sagen, dass Sie jetzt ein Toter mit Erinnerung sind?“
„Da kann ich vollinhaltlich zustimmen! Erinnert … also … habe ich mich … wenigstens ein bisschen.“
Julia fuhr mit ihrer rechten Hand durch die Luft: „Lassen wir Ihr Tot-Sein mal beiseite. Wenn man Tote fragt, können die sich ja durchweg nicht erinnern, Sie aber schon …“
„Das ist ja das Problem mit den Ermordeten, diesen Leichen“, fügte Vlassi ein.
„Ja, ja, wir haben also ein Problem weniger. Wie sind Sie denn wiederauferstanden, wie sind Sie vollwertig geworden, ich meine, wie haben Sie Ihr Gedächtnis wiedergefunden?“
„Dem Doktor Niebergall habe ich das nicht zu verdanken, der konnte mir ja nur den Mann mit den Hörnern empfehlen.“
„Weiß ich, weiß ich“, drängte Julia, „wem haben Sie es denn zu verdanken?“
Vlassi zog ein nachdenkliches Gesicht: „Ja … also, ich ging so für mich hin, als mich ein Ruf von der anderen Straßenseite ereilte, ein plötzlicher Anruf …“
„Werden Sie doch nicht episch“, unterbrach ihn seine Chefin, „kommen Sie auf den Punkt.“
„Ich muss es so erzählen, damit Sie es verstehen.“
„Ich verstehe Sie am besten, wenn Sie schneller werden“, sagte Julia mit ernstem Gesicht.
„Die Schnelligkeit ist ein Leiden unserer Zeit“, murmelte Vlassi, „vielleicht ist das die eigentliche Ursache meiner Gedächtnisschwäche …“
„Und Ihres Tot-Seins“, ergänzte Julia mit sarkastischer Miene, „bitte weiter in angemessener Geschwindigkeit.“
„Ich erhielt also diesen Ruf, und es stellte sich heraus, dass ein alter Bekannter, vielleicht könnte ich ihn sogar als Freund bezeichnen, mir ein Zeichen gab.“
„Denken Sie daran“, gab Julia Wunder, der es wieder zu lang wurde, ihrem Vlassi zu verstehen, „dass wir nicht das ganze Leben für Ihre Geschichte drangeben wollen. Außerdem könnte jeden Moment Kriminalrat Feuer erscheinen.“
Das Stichwort Feuer machte Vlassi Beine: „Sie haben recht, wenn der kommt, muss ich vom Epischen ins Theatralische wechseln. Und ich bin ja abgekommen von meinen Theater-Ambitionen.“
„Ein Glück“, stöhnte Julia auf, „ein Glück, dass wir den letzten Fall hatten, wo Sie zur Besinnung gekommen sind. Vielleicht erreichen wir das auch diesmal.“
Vlassi wurde jetzt tatsächlicher schneller: „Also dieser Freund, Sie kennen ihn nicht, der hat von den Aufgewachten gesprochen und hat mir einen Mann geschildert, an den ich mich erinnert habe, ich habe mich auch daran erinnert, dass ich ihn umgebracht habe …“
Julia zuckte zurück: „Das wird ja immer doller mit Ihnen. Sie haben jemanden umgebracht?“
„Ja, das glaubte ich, ich war sogar fest davon überzeugt, aber mein Freund …“
„Wie heißt dieser Freund denn eigentlich, ich will seinen Namen erfahren“, sagte Julia.
„Meinen Sie, der ist ein Mörder?“
„Erzählen Sie weiter.“
„Also der Freund heißt Born, Volker Born, er ist Theologe …“
„Das macht nichts, auch Theologen sind vor Untaten nicht gefeit“, erwiderte Julia, „weiter, weiter.“
„Sie haben recht“, teilte Vlassi nachdenklich mit, „auch Theologen können morden, der Mord ist schließlich eine menschliche Errungenschaft.“
Julia verdrehte die Augen, gab aber keinen Kommentar zu Vlassis Feststellung.
„Also“, fuhr Vlassi fort, „nachdem ich Volker Born von meinem Tatverdacht mich selbst betreffend berichtet hatte, rief der den von mir Ermordeten an …“
„Sie machen’s so kompliziert“, unterbrach ihn Julia.
„Ich rede dienstlich und korrekt“, rechtfertigte sich Vlassi, „ich hielt mich schließlich für einen mordenden Kommissar.“
„Und? Waren Sie’s?“
„Seltsamerweise nicht. Denn der von mir Ermordete lebte, wie Herr Born durch ein Telefonat feststellte.“
„Da sind Sie ja noch mal gut weggekommen“, stellte Julia fest.
„Ich bin mir da nicht so sicher“, murmelte Vlassi, „und wissen Sie warum?“
„Weil Sie unbedingt den Mörder spielen wollen“, sagte Julia.
„Falsch!“, rief Vlassi aus, „ich habe weiter gedacht. Wie Sie wissen, ist mein Horizont enorm. Ich habe daran gedacht, dass Born mit einer Fälschung gesprochen hat.“
Jetzt schlich sich in die Gesichtszüge von Kommissar Spyridakis ein gewisser Triumph: „Der Mann, mit dem Born telefoniert hat, war nicht echt …“
„War er vielleicht auch tot?“, fragte Julia grinsend.
„So glauben Sie mir doch. Der Angerufene konnte doch ein Double sein. Das kennt man doch von Film und Fernsehen, da laufen doch lauter Doubles rum, die plappernd ihre Rolle spielen und gar nichts vom Ganzen verstehen.“
„Meinetwegen“, nickte Julia, „aber eigentlich ist Ihr tragischer Fall doch abgeschlossen, Sie haben Ihr Gedächtnis wieder und sind nicht tot, was wollen Sie denn noch mehr?“
Vlassi richtete sich in seinem Stuhl auf: „Aber Frau Wunder, Sie enttäuschen mich! Ich muss doch die Ursache für mein Tot-Sein herausfinden.“
„Sie sind doch gar nicht tot, Sie waren es auch nie.“
„Ja, das ist es ja“, erwiderte Vlassi mit zorniger Stimme, „ich bin zwar nicht tot, aber ich habe mich so gefühlt. Das muss doch Gründe haben.“
„Viele Menschen sind nicht tot, fühlen sich aber so“, teilte Julia ihrem Assistenten mit, „ein Gebrechen unserer Zeit.“
„Ich aber gehöre zu denen, die sich nicht mit ihrem Tot-Gefühl abfinden können! Und dass mir das Gedächtnis abhandenkam,