den Kopf von rechts nach links: „Das sehen Sie falsch. Ich bin nur überzeugt, dass mein Vater Sie bereits über die Qualitäten Ihres Urahns unterrichtet hat.“
„Ein Dichter war er, ein wunderbarer Dichter“, stimmte Wolfgang Hillberger ein, „leider erkennt das meist erst die Nachwelt.“ Er warf einen schnellen Blick zu seinem Tischnachbarn Niebergall: „Und mancher gar nicht.“
Um dann hinzuzufügen: „Immerhin weiß das Darmstädter Theater, was sich gehört. Man feiert ihn dort jedes Jahr aufs Neue.“
„Ein Pflichttermin wohl“, konnte sich Dr. Niebergall nicht verkneifen anzumerken.
Hillberger sah ihn empört an: „Kein Pflichttermin, ein Freudentermin!“
Die Kellnerin brachte der Hauptkommissarin ihren Kaffee, und Julia nutzte die Gelegenheit, um zu dem zu kommen, was ihr am wichtigsten schien.
„Sagen Sie, Herr Doktor Niebergall, was haben Sie denn bei Herrn Spyridakis ausrichten können?“
Der Psychiater hatte sich längst von seiner Idee verabschiedet, dass die Tochter seines Kaffeebruders zu einer Mitstreiterin in Sachen Vorfahr für ihn werden könnte, jetzt räusperte er sich: „Ich habe Ihrem Vater schon gesagt, dass ich diesen Menschen, also Ihren Kollegen, als Hallodri einschätze.“
„Hallodri“, murmelte Julia, „Sie meinen, er ist ein Bruder Leichtfuß?“
Niebergall war angetan von Julia Wunders Äußerung: „Sehen Sie, Sie verstehen mich – im Gegensatz zu Ihrem Vater.“
Julia ging auf seine Bemerkung nicht ein: „Haben Sie ihm denn helfen können? Er leidet doch unter Gedächtnisschwund.“
„Ja, ja, das brachte er vor, er sagte sogar, dass er ein Toter ohne Gedächtnis sei. Aber ich habe ihm zu erklären versucht, dass es keinen Gedächtnisschwund gibt, der sich über Jahre hinzieht.“
„Und tot?“, flocht Wolfgang Hillberger ein, „kann man sich nicht tot fühlen bei lebendigem Leibe? Das ist doch ein Gebrechen, unter dem heute so mancher leidet.“
Der Psychiater spürte, dass er sich rechtfertigen musste, und kramte in seinem Wissensschatz: „Natürlich kommt so etwas vor. Die Lehrbücher berichten von sehr seltenen Fällen …“
„Vielleicht ist er so ein seltener Fall“, schob Hillberger ein.
Der Nachfahr des Dichters Niebergall kratzte sich an seiner Knollennase: „Sehr unwahrscheinlich, mein Lieber, das hätte ich gemerkt.“
„Was haben Sie denn überhaupt gemerkt?“, fragte Julia in energischem Ton.
„Ich glaube, dass Ihr Mitarbeiter generell gefährdet ist“, säuselte der Psychiater, „und nicht merkt, wenn er in Gefahr ist.“
Dabei dachte Niebergall an den Stuhl, seinen Teststuhl, auf dem Vlassi schwankend gesessen hatte und sich am Schreibtisch festhalten musste. Doch das wollte er nicht mitteilen, schließlich war es eine Art Berufsgeheimnis.
Zu seiner Überraschung stimmte ihm sein Kaffeebruder Hillberger zu: „Ja, das glaube ich auch, der Spyridakis ist generell gefährdet und weiß es nicht mal.“
Julia Wunder wusste, dass ihr Assistent Vlassopolous Spyridakis durchweg auf ungewöhnliche Weise ermittelte und sich mitunter in gefährliche Situationen brachte. Sie konnte jedoch nicht wissen, dass zu seinen Ermittlungsmethoden neuerdings auch ein Mord gehörte.
Sie nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und sagte nun voller Überzeugung: „Nein, nein, er weiß, dass er verwegen lebt, geht aber so damit um, wie ihr es euch nicht vorstellen könnt.“
8 Tote leben länger als man glaubt
„Was!“, rief Volker Born zur gleichen Zeit im Café Rondo am Schiersteiner Hafen aus, „Sie haben Reinhardt umgebracht?“
Vlassi senkte den Kopf, sein Gesicht sah nun nicht mehr weiß aus, es hatte sich ins Gelbliche verfärbt und wirkte toter als tot, kein Wort kam über seine Lippen.
„Reden Sie doch!“, forderte ihn Born auf.
Nach einer Weile murmelte Vlassi: „Kann nicht … muss es erst verdauen.“
Volker Born wurde robust: „Verdauen, verdauen! Wollen Sie den Toten verdauen?“
Vlassi hob den Kopf: „Wie konnte … das nur passieren?“
Dem Theologen Born schossen einige Gedanken durch den Kopf, jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten: „Ach, ich kenne Sie ja einigermaßen, Sie haben sicher schlecht geträumt, Sie haben sich an einen üblen Traum erinnert.“
Vlassi schüttelte den Kopf: „Meine Träume sind nicht mörderisch. Ich träume im Allgemeinen von der Südsee, wo ich mit einem Ferrari durch die Gegend brause und mir schöne Frauen …“
Volker Born unterbrach ihn: „Vielleicht hat Ihnen eine schöne Frau einen Korb gegeben und Ihrem Ferrari eine lange Nase gedreht.“ Und mit anzüglichem Grinsen fügte er hinzu: „Weshalb Sie sie umgebracht haben – natürlich nur im Traum.“
Vlassi konnte darüber nicht einmal lächeln: „Nein! Ich bringe keine schönen Frauen um. Ich bringe höchstens Männer um, die sich ihnen mit Mordgedanken nähern. Ich habe diesen Burschen umgebracht.“
„Diesen Burschen? Also Reinhardt?“, fragte Volker Born.
Vlassi nickte.
„Sie sind starrsinnig“, stellte Born fest, „wollen Sie als mordender Kommissar in die Annalen eingehen?“
Dann fiel ihm etwas ein: „Wie haben Sie denn gemordet? Mit Pistole, mit Messer, mit Gift?“
Vlassi hatte sich gefasst und antwortete resolut: „Ich habe ihn erschossen. Es kam, wie es kommen musste. So glauben Sie mir doch.“
„Aber warum? Warum haben Sie das gemacht?“
In dem Moment erschien die Kellnerin an ihrem Tisch, und Vlassi murmelte: „Kann mich nicht erinnern.“
Die Kellnerin fragte mit einem Lächeln: „Kann ich den Herren noch etwas bringen?“
„Im Moment nicht“, antwortete Volker Born und dachte: Vielleicht sollte sie dem Spyridakis eine Pistole bringen. Ich bin sicher, der kann damit gar nicht umgehen und schießt sich in den eigenen Fuß.
Kaum war die Kellnerin verschwunden, richtete er das Wort an sein Gegenüber: „Sie haben also Reinhardt umgebracht. Nun gut, ein Mord kann mitunter erquicken. Aber wir sollten doch überprüfen, ob der Tote überhaupt tot ist.“
„Er ist es“, teilte Vlassi mit trüber Stimme mit.
„Wir wollen nicht voreilig sein. Ob jemand tot ist oder nicht, das ist leicht zu überprüfen.“
„Wollen Sie ins Leichenschauhaus?“, fragte Vlassi.
Volker Born hob den Kopf: „Keineswegs. Tote haben die Angewohnheit, nicht zu reden.“
„Ja, sie schweigen einen immer nur an“, sagte Vlassi, als würde er eine große Weisheit mitteilen.
Born nickte: „Wir Theologen wissen, dass man die Wahrheit nur durch die Augen des Todes erfährt.“
Vlassi grübelte noch über diesem Gedanken, als Born schon weitersprach: „Aber was ist die Wahrheit?“
Jetzt raffte sich Vlassi zu einer Antwort auf: „Die verdächtige Wahrheit, meinen Sie?“
„Ob sie verdächtig ist, werden wir schnell herausfinden. Wozu haben Sie mich!“
Born griff in die Innentasche seines Jacketts, holte sein Smartphone heraus und wählte eine Nummer. Vlassi konnte sich schon denken, wen er anrief. Es piepte einige Male, sodass Spyridakis schon für sich dachte: Warum glaubt mir dieser Born nicht, Tote können nicht nur nicht reden, sie sind auch nicht imstande, einen Telefonhörer an ihr Ohr zu heben.
Doch plötzlich rief Volker Born