Lothar Schöne

Mord oder Absicht?


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er dachte: Dabei würd’ ich nur zu gern aufwachen – aufwachen aus meiner Gedächtnisstarre.

      Volker Born nahm einen Schluck Kaffee, dann sagte er: „Wissen Sie, was die Aufgewachten behaupten?“

      Er wartete keine Antwort ab, sondern sprach sofort weiter: „Das Coronavirus halten sie für eine Erfindung. Die ganze Pandemie gilt ihnen als sorgfältig ausgetüftelter Plan von Bill Gates …“

      „Gates, ist das nicht …?“, warf Vlassi ein.

      „Ja, der Microsoft-Gründer. Er will mit Corona angeblich Geld verdienen.“

      „Verdient er damit Geld?“, fragte Vlassi.

      „Natürlich verdient er Geld, aber nicht damit. Er verdient Geld durch seine Computer, das sollten Sie doch wissen.“

      „Richtig. Eben fällt’s mir auch ein.“

      Born sandte ihm einen kritischen Blick: „Herr Spyridakis, mir scheint, dass Sie ein bisschen vergesslich werden.“

      Der hat mein Problem erkannt, ging es Vlassi durch den Kopf, ob ich ihm vielleicht …

      Volker Born redete weiter: „Wissen Sie, was die Aufgewachten auch behaupten? Dass es nur um die Frage geht, ob die Menschheit ausgerottet wird oder die Eliten hängen.“

      „Das passt doch gar nicht zusammen“, entgegnete Vlassi und dachte: Das passt so wenig zusammen wie Mord oder Absicht – oder gibt es hier doch einen Zusammenhang?

      „So könnte man meinen“, hörte er von seinem Kaffeegenossen.

      „Soll das heißen, dass die Eliten gar nicht aus Menschen bestehen, sondern aus Maulwürfen?“, fragte Vlassi.

      „Verquere Idee! Nein, es soll eine bürgerkriegsähnliche Situation heraufbeschworen werden. Entweder werden die Menschen ausgerottet oder, das ist die Alternative, man hängt die Eliten. Verstehen Sie?“

      Vlassi nickte, obwohl er kaum verstand: „Das erinnert mich an die alte DDR. Dort hat man allerdings vergessen, die Eliten rechtzeitig aufzuhängen.“

      „Nicht gleich so brachial werden“, schob der Theologe ein, „aber im Prinzip haben Sie recht. Sie sind offenbar wieder auf dem Damm, Sie scheinen zu verstehen.“

      Vlassi war beruhigt, er hatte sich erinnert, wenn auch an einen Staat, der lange perdu war. Aber das wusste er ja schon, sein Gedächtnis funktionierte bei lang Zurückliegendem – aber vielleicht könnte er sich allmählich auch in die jüngste Vergangenheit zurücktasten.

      „Eines muss ich Ihnen noch erzählen“, sprach Born, „die Aufgewachten behaupten auch, dass durch den neuen Mobilfunkstandard, man nennt ihn 5G, Nanopartikel in unsere Zellkerne vordringen und Krankheiten auslösen. Wir würden bald als Zombies durch die Welt gehen und außerdem unfruchtbar sein.“

      Vlassi fiel ein, dass er vielleicht zu viel mit seinem Handy telefoniert hatte – könnte daher die Gedächtnisschwäche rühren? Aber sein Handy war vorsintflutlich, wie Julia Wunder öfter schon festgestellt hatte. Das sonderte bestimmt keine Nanopartikel ab – was auch immer das war. Außerdem lehnte er es ab, als Zombie durch die Welt zu gehen. Er war höchstens ein Toter ohne Kurzzeitgedächtnis.

      „Stimmt denn das?“, wollte er wissen.

      Volker Born spreizte beide Arme nach oben: „Natürlich nicht! Das ist Unsinn. Wie auch das, was die Aufgewachten über den bundesweiten Sirenen-Tag publizieren. Er findet, soviel ich weiß, am 10. September statt …“

      Vlassi hob die Schultern, um sein Nichtwissen anzudeuten.

      „Angeblich dient dieser Tag dazu, um die Schwingungen und das Erwachen zu blockieren“, fuhr Born fort und zog ein Gesicht, als habe er in eine furchtbar saure Pampelmuse gebissen.

      „Was für Schwingungen?“, wollte Vlassi wissen.

      Born beugte sich vor: „Endlich mal eine kluge Anmerkung. Eben! Was für Schwingungen? Das sind Hirngespinste, das ist alles nur Blabla von Verschwörungsanhängern.“

      Vlassi nickte, dachte jedoch: Aber dass das Erwachen blockiert wird – könnte das nicht auf mich zutreffen? Was habe ich am 10. September gemacht? Vielleicht hat mich ein Sirenenton aus dem Gleichgewicht gebracht, als ich ahnungslos durch den Kurpark gelaufen bin?

      „Es hat keinen Sinn“, brach Volker Born in seinen Gedankenstrom ein, „sich länger mit diesen verqueren Gedanken zu beschäftigen. Ich bin eigentlich nur darauf eingegangen, weil ich gemerkt habe, dass Sie keine Ahnung haben.“

      „Sie wollten mich aufklären.“

      „Genau! Wie Sie schon sagten, ich bin Ihr Aufklärer“, bestätigte Born, „mein Begehr ist, Sie zum Zeitgenossen zu machen.“

      Vlassi erwiderte ernst: „Das hab’ ich dringend nötig. Zeitgenossenschaft und Vergangenheit, die gerade vergangen ist.“

      „Die Vergangenheit vergeht nie“, teilte Born grinsend mit, „auch wenn uns mitunter das Gegenteil erklärt wird.“ Er machte eine kleine Pause: „Aber sich mit der üblen Gegenwart zu beschäftigen ist dringend nötig. Na ja, haben wir soeben getan.“

      Vlassi nickte und griff zu seiner Tasse, einen Schluck könnte er sich noch gönnen, auch wenn der Kaffee inzwischen bestimmt kalt geworden war. Oder tot, wie sein Tischnachbar gesagt hatte.

      „Es gibt aber auch Erfreuliches in der Gegenwart“, fuhr Born fort und machte ein geheimnisvolles Gesicht.

      „Tatsächlich, gibt es das?“, murmelte Vlassi, der seine Tasse zurückgestellt hatte. Sein Kaffee war nicht nur tot, für ihn hatte er geradezu Leichengeruch angenommen.

      „Ja, ja, das gibt es“, erklärte Born, „es gibt Erfreuliches. Man darf die Welt nicht nur mit den Augen des Pessimisten sehen. Was ist Pessimismus?“

      „Ja … also …“, wollte Vlassi ansetzen.

      „Ich sag’s Ihnen. Wenn man im Glück das Unglück erkennt, im Sieg die Niederlage sieht, im Schönen den Verfall wittert.“

      Volker Born hielt inne: „Machen wir uns nichts vor. Pessimismus ist eine deutsche Grundtugend.“

      Da bin ich inzwischen sehr deutsch geworden, ging es Vlassi durch den Kopf, sehe ich nicht in meinem schönen Geist auch bereits den hässlichen Verfall?

      „Optimisten dagegen“, fuhr Born fort, „sehen im Unglück eine glückliche Fügung, in der Niederlage einen Sieg, und in Aschenputtel erkennen sie eine Prinzessin. Mit anderen Worten: Optimisten leben gesünder, glücklicher und länger.“

      Vlassi horchte auf und wusste sofort: Er musste optimistischer werden. Der Zustand, in dem er sich befand, war ja äußerst ungesund. Wenn sich die Erinnerung sträubt, zu mir zurückzufinden, dachte er, konnte das nur in Siechtum und Hinfälligkeit enden, von Glück und langem Leben gar nicht zu reden. Wahrscheinlich breiten sich sogar schon allerlei Krankheiten in mir aus, Krankheiten, die mich dem ungesunden Grab entgegenschieben.

      „Ja!“, stöhnte er, „ich möchte unbedingt dem Optimismus nähertreten.“

      „Sie sind es bereits“, sagte Born gravitätisch, „denn Sie kennen mich.“

      „Sie sind ein Optimist?“ In Vlassis Frage steckte ein Unterton von Zweifel.

      „Aber natürlich! Alle pessimistischen Gedanken, die mich mitunter anfallen, verbanne ich sofort in den Orkus.“ Born machte eine kleine Pause: „Jetzt zum Beispiel fällt mir ein, dass wir ein Stück Kuchen essen könnten. Ein Gedanke, der meinem Optimismus entspringt, denn ich hoffe, nein, ich glaube, dass der Kuchen hier mundet.“

      „Ah ja“, murmelte Vlassi, „dann lassen Sie uns mit Optimismus bestellen.“

      Born drehte sich herum und winkte der Kellnerin. Als sie an den Tisch kam, sagte er: „Sie haben doch einen wunderbaren Schlupfkuchen, wie ich hörte.“

      Die Kellnerin bestätigte.

      „Bringen