zehn Minuten später stieg er in seinen Dienstwagen und trat die Heimfahrt an. Sein Blick schweifte von der Straße zum Rhein, und er überlegte, wohin sein Weg ihn führen sollte. Ins Büro zu Julia Wunder? Aber der könnte er nur von seinem Misserfolg bei Dr. Niebergall berichten. Dabei hatte sie sich solche Mühe mit ihm gegeben – konnte er sie da enttäuschen?
*
Hauptkommissarin Wunder machte sich zur gleichen Zeit tatsächlich Gedanken um ihren Assistenten. Sie saß im Büro an ihrem Schreibtisch, stand gerade auf und ging zum Fenster. Und wenn man genau hinschaute, konnte man eine Sorgenfalte auf ihrer Stirn entdecken.
Den Fensterblick liebte sie, sie hatte das Gefühl, dass der Blick in die Ferne, hinauf zum Neroberg, ihre Gedanken freier machte. Sie fragte sich, ob die Empfehlung ihres Vaters dem Kollegen Spyridakis geholfen hatte? Ihr Nachdenken fand ein jähes Ende, denn die Tür hinter ihr wurde aufgerissen, und Kriminalrat Feuer enterte das Zimmer.
„Guten Tag, Frau Wunder!“, rief er.
Sie drehte sich herum und erwiderte seinen Gruß.
„Sie machen ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter“, rief Robert Feuer gutgelaunt.
„Ich habe nur nachgedacht“, erklärte Julia.
„Nachdenken ist immer gut. Wer nachdenkt, wird klüger. Haben Sie heute schon den Wiesbadener Kurier gelesen?“
„Noch nicht.“
„Ich möchte Ihnen eine Lektüre empfehlen, einen Artikel für Zeitgenossen, die wir ja alle sind.“
„Ah ja“, murmelte Julia, und das wirkte ziemlich uninteressiert.
„Sie sollten sich ihn zur Brust nehmen“, teilte Feuer mit, um sich gleich zu korrigieren, „ich meine natürlich, Sie sollten sich ihn vor Augen führen …“
„Worum geht es denn?“
„Es geht um die Aufgewachten, haben Sie von denen schon gehört?“
Julia Wunder ging zu ihrem Schreibtisch. Während sie sich setzte, teilte sie mit: „Ich muss gestehen, nein.“
„Oh“, sagte Feuer und nahm ihr gegenüber auf Vlassis Stuhl Platz, um gleich fortzufahren: „Da ist Ihnen was entgangen. Das sollten Sie nachholen.“
„Handelt es sich um Kriminelle?“, wollte Julia wissen.
„Nein, nein“, wehrte Feuer ab, „wir haben mit denen nichts zu tun. Fernab von unserer Welt sind die. Aber Lesen bildet. Man sollte sich auch für Dinge interessieren, die etwas außerhalb der beruflichen Tätigkeit liegen.“
Julia nickte: „Werd’ ich machen.“ Und sie fügte mit leichtem Grinsen hinzu: „Sie wissen doch, dass mir Ihr Wunsch Befehl ist.“
Feuer fiel plötzlich etwas ein: „Sagen Sie mal, wo ist eigentlich Spyridakis, dieser unselige Kollege? Geht er immer noch spazieren, wie ich es ihm empfohlen habe?“
Jetzt war Julia etwas in der Klemme. Sollte sie Feuer etwa erzählen, dass sie ihn nach Geisenheim zu einem Psychiater geschickt hatte?
„Das Spazierengehen muss auch mal ein Ende haben“, murrte Feuer, „jetzt sitze ich schon auf seinem Platz, bin ich etwa sein Stellvertreter?“
Julia erwiderte: „Niemals könnten Sie sein Stellvertreter sein.“ Sich räuspernd, fuhr sie fort: „Ich meine es natürlich umgekehrt. Übrigens ist Kommissar Spyridakis auf einer Recherche. Ich habe ihn zu einem Mann entsandt …“
Sie kam nicht weiter, Robert Feuer beugte sich vor: „Etwas Kriminelles, von dem ich nichts weiß?“
Julia nahm den zugespielten Ball sofort auf: „Ja, das könnte möglich sein. Ich wollte Sie nicht damit belästigen, wir sind noch in den Vorarbeiten, in den allerersten. Wie gesagt, Recherche.“
„Wie heißt denn der Mann, zu dem Sie Spyridakis geschickt haben?“
„Niebergall“, antwortete Julia.
„Niebergall … Niebergall … der Name kommt mir irgendwie bekannt vor … woher kenne ich den?“, murmelte Feuer.
„Es gibt sicher eine Menge Niebergalls …“
Wieder fiel ihr Robert Feuer ins Wort: „Ist es ein Name aus Verbrecherkreisen? Er klingt ganz danach.“ Feuer hielt inne und murmelte: „Aber woher kenne ich ihn?“
Julia wollte ihm auf keinen Fall helfen: „Es wird Ihnen sicher noch einfallen.“
Der Kriminalrat erhob sich: „Nun gut. Halten Sie mich auf dem Laufenden was diesen Niebergall anlangt. Und ich will auch wissen, was Spyridakis bei ihm ermittelt hat.“
„Aber natürlich, Herr Feuer, ich erstatte Bericht, wenn ich mehr weiß.“
Robert Feuer ging zur Tür, während er den Namen Niebergall vor sich hinmurmelte. Kaum war er draußen, griff Julia zum Telefon. Sie wollte Vlassopolous Spyridakis anrufen, nicht allein Wissbegier trieb sie, es war auch pure Neugier – sie wollte unbedingt erfahren, ob Dr. Niebergall ihren Vlassi in Sachen Gedächtnisverlust geheilt hatte.
*
Vlassi fuhr inzwischen in den Wiesbadener Vorort Schierstein ein. Als er am Drogeriemarkt Rossmann vorbeikam, überlegte er, ob er nicht den Parkplatz im Hof aufsuchen sollte. Er könnte in der Drogerie nach einem Gesundheitstee fahnden. Nein, kein Moringa sollte es sein, sondern ein Tee, der seinem malträtierten Gedächtnis aufhalf.
Gedacht, getan. Kaum befand er sich im Laden, steuerte er die Tee-Abteilung an. Und war überrascht. Was gab es hier nicht alles, was einen maladen Körper und Geist wieder in Form bringen konnte. Er sollte auf jeden Fall den Nerven- und Schlaftee nehmen, auch den Leber- und Galle-Tee nicht verschmähen – vermutlich war seine Leber auch angeschlagen, eventuell sogar die Ursache für seinen Zustand. Und einen Verdauungstee konnte man immer gebrauchen, wahrscheinlich verdaute er schlecht und litt deshalb unter Gedächtnisschwund. Zur Unterstützung würde er gleich auch den Magen-und-Darm-Tee einpacken.
Und was sah er da? Kopf-Entspannungstee! Der war ja für ihn ausgesprochen wichtig. Sein Kopf, sein Geist musste sich enorm entspannen, dann konnte die Erinnerung wieder einströmen. Vielleicht würde auch der Brennnesseltee ihm weiterhelfen. Wofür war der eigentlich gut? Zur Durchspülung der Harnwege, stand auf der Packung. Meine Harnwege, ging es Vlassi durch den Kopf, sollten auf jeden Fall durchspült werden. Wer weiß, was da alles abtransportiert wird.
Eine junge Verkäuferin näherte sich ihm: „Suchen Sie etwas Bestimmtes?“
Vlassi drehte sich zu ihr: „Ja … also, haben Sie etwas … fürs Gedächtnis?“
Die Frau nickte: „Nehmen Sie doch einen Ingwertee. Den trinke ich sehr gern.“
„Ah“, sagte Vlassi, „daran habe ich noch gar nicht gedacht, etwas Spezielles wohl?“
Die Verkäuferin nickte und lächelte.
Vermutlich ein guter Tipp, dachte Vlassi, offenbar hat die Dame auch Gedächtnisschwierigkeiten. Er bedankte sich und griff zu einer Packung Ingwertee. Die junge Frau erkannte, dass Vlassi einen Einkaufskorb brauchte. Sie warf ihm einen liebevollen Blick zu und brachte ihm einen solchen Korb.
Ach, überlegte Vlassi, als er zur Kasse strebte, hier werde ich öfter herkommen, hier wird mein Leiden intuitiv erkannt, noch dazu von einer Frau in meinem Alter, hier hilft man mir auf die Beine. Beim Bezahlen merkte er, dass er eine Tasche für seine vielen Tees brauchte, aber das war für die Dame an der Kasse ein leicht zu lösendes Problem. Sie reichte ihm einen Papierbeutel: „Da gehen all Ihre Tees hinein.“
Draußen auf der Straße wollte Vlassi zu seinem Auto im Hof der Drogerie eilen, als eine Gestalt auf der gegenüberliegenden Straßenseite ihm zurief: „Wen sehe ich denn da! Das ist doch Kommissar Spyridakis.“
Vlassi hatte den Burschen nicht gesehen und fragte sich sofort, ob sich sein Gedächtnisschwund jetzt schon auf seine Sehkraft legte. Hätte er vielleicht