mitunter ganz hilfreich.“
„Eine Idee …“, murmelte Vlassi.
Julia gab keine Auskunft, griff stattdessen zum Telefonhörer und wählte eine Nummer.
Schon nach dem ersten Klingeln meldete sich auf der Gegenseite eine männliche Stimme, Vlassi konnte nicht hören, welche es war, erkannte aber rasch, um wen es sich handelte.
Seine Chefin sprach mit ihrem Vater Wolfgang Hillberger, teilte ihm in kurzen Worten mit, dass sie einen schwierigen Fall vor sich habe, worauf Hillberger sie unterbrach: „Das kann nur der Spyridakis sein! Der ist doch die Schwierigkeit in Person.“
Julia bejahte seine Feststellung nicht, wollte stattdessen wissen, ob ihr Vater einen Psychiater kenne, der mit Gedächtnisschwund umgehen könne.
„Das kann jeder, das ist ihr Beruf!“, schnarrte Hillberger, während Vlassi auf der anderen Seite des Schreibtischs aufstöhnte: „Zum Nervenarzt soll ich? Ich bin doch nur tot und nicht plemplem.“
Wolfgang Hillberger hatte Vlassis Stöhnrede nicht gehört, stellte aber ebenfalls fest: „Ist der Spyridakis jetzt vollständig abgedreht, ganz von der Rolle?“
Julia antwortete: „Das ist sein Wesen, Papa. Damit muss man klarkommen.“
„Mein Wesen“, griff Vlassi wieder ein, „mein Wesen ist das Tot-Sein. Erklären Sie das Ihrem Vater mal. Damit muss ich klarkommen.“
„Und vor allem ich“, teilte Julia ihm über den Schreibtisch hinweg mit.
Hillberger erklärte seiner Tochter: „Also einen Psychiater braucht er. Es gibt ja bei der Polizei auch welche. Von denen rate ich ab. Ein alter Studienfreund von mir praktiziert nach wie vor. Ein sehr einfühlsamer Mann ist das. Der ist was ganz Besonderes, er ist nämlich psychologischer Psychotherapeut. Er wohnt in Geisenheim, da müsste der Spyridakis hin.“
„Wie heißt er denn, und weißt du zufällig auch die Straße, wo er praktiziert?“, fragte Julia.
„Niebergall heißt er, Doktor Niebergall. Ich will ihn zu meinem neuen Kaffeebruder machen, nachdem der alte ja einen mörderischen Abflug gemacht hat …“
„Du sprichst von Konrad Neumann und unserem letzten Fall“, schob Julia ein.
„Ja, natürlich. Der Niebergall wäre ein prima Ersatz für den Neumann, der es ja nicht ins Eis geschafft hat.“ Wolfgang Hillberger machte eine kleine Pause: „Also der Niebergall hat seine Praxis in Geisenheim in der Haasenstraße, die schreibt sich mit zwei a. Ich glaube, die Nummer ist 24. Das muss der Spyridakis recherchieren.“
„Danke, Papa“, murmelte Julia und legte auf.
Vlassi hatte versucht, möglichst viel von ihrem Telefonat mitzukriegen, jetzt schaute er seine Chefin von seiner Schreibtischseite streng an: „Ich soll wohl zu einem Seelenklempner, den noch dazu Ihr Vater empfiehlt?“
„Mein Vater empfiehlt nur Wertvolles, das sollten Sie längst wissen. Und da Sie ohne Gedächtnis hier nur wertlos herumsitzen, sollten wir seine Empfehlung annehmen.“
Vlassi richtete sich in seinem Stuhl auf: „Ich muss protestieren! Sogar als erinnerungsloser Toter besitze ich einen gewissen Wert.“
„Aber natürlich, Herr Spyridakis“, stimmte Julia zu und fuhr mit warmer Stimme fort: „Aber den Wert können wir steigern, wir wollen doch wieder einen vollwertigen Kommissar Spyridakis in unserer Mitte haben.“
„Ich weiß nicht“, murrte Vlassi, „ob der Ratschlag von Kriminalrat Feuer meinem toten Wesen nicht angenehmer ist. Lieber einen Tag freinehmen und spazieren gehen.“
„Auf keinen Fall“, entgegnete Julia, „gerade Tote ohne Erinnerung lieben es, verarztet zu werden, noch dazu von einem Mann mit einem so klangvollen Namen wie Niebergall und so einer wunderbaren Berufsbezeichnung wie psychologischer Psychotherapeut.“
3 Sind Sie außer Gefahr?
Vlassi saß in seinem opulenten Dienstwagen, dem Opel Corsa, und fuhr eben durch Eltville. Da er kein Navi besaß, hatte er sich vorher auf der Karte kundig gemacht, wo er hinsollte. Irgendwie, überlegte er, während er an der MM-Sektmanufaktur vorbeifuhr, hatte Julia Wunder vielleicht doch recht. Er musste seine Gedächtnisschwäche überwinden, und sei es mit Hilfe eines Seelenklempners.
Er fuhr am Rhein entlang, kam nach Erbach und Hattenheim, ließ Oestrich-Winkel hinter sich, und jetzt musste Geisenheim doch bald auftauchen. Tatsächlich sah er ein Hinweisschild, der Ort lag nicht direkt am Rhein, entbehrte also gewissermaßen der Schifffahrt und frischen Brise des Flusses – aber das sollte ihn nicht stören.
Vlassi parkte seinen Corsa am Eingang des Ortes, anderes war auch nicht möglich, da Geisenheim offenbar Durchgangsverkehr verschmähte. Zu Fuß machte er sich auf zur Haasenstraße und war überrascht. Nämlich von der Schönheit des Ortes. Einen wunderbaren Marktplatz besaß Geisenheim und sogar einen Dom, wie er feststellte. Und die vielen Cafés und Restaurants hatte er auch nicht erwartet. Hier herrschte ja geradezu griechische Atmosphäre. Aber das Beste, stellte er fest, war wohl eine Buchhandlung namens Untiedt. Die war opulenter als jene, die er so gern aufsuchte, nämlich die von Andreas Dieterle in Schierstein. Es ist nicht verkehrt, ging es ihm durch den Kopf, dass ich diesem Niebergall einen Besuch abstatte, vermutlich wäre ich sonst nie in diesem Geisenheim gelandet, das ist ja ein wahres Kleinod des Rheingaus. Eigentlich bin ich ja ein Wiesbaden-Fan, aber hier könnte ich auch Mördern nachjagen. Und ein weiterer edler Gedanke strich ihm durchs Hirn: Sollte ich nicht mal mit Carola nach Geisenheim fahren und sie eventuell zum Essen einladen?
Er überlegte, ob er der Buchhandlung Untiedt einen Besuch abstatten und vielleicht sogar in ein Café einkehren sollte, es war für die Jahreszeit warm, sogar die Sonne zeigte sich, er könnte draußen einen Gartenplatz finden, den Nachmittag genießen und über sein erinnerungsloses Dasein grübeln.
Vlassi riss sich am Riemen. Nein, nein, nein! Dieser Niebergall ging vor. Nicht, weil er seiner Chefin einen Gefallen tun wollte, er musste sich selbst diesen Gefallen tun. Sollte er denn ewig ohne Gedächtnis vor sich hinvegetieren? Carola eventuell beichten, dass er nicht mehr ganz unter den Lebenden weilte? Er musste sein Tot-Sein überwinden, und dieser Dr. Niebergall war vermutlich die richtige Adresse dafür.
Die Haasenstraße hatte er bald gefunden. Allerdings praktizierte Dr. Niebergall nicht in der Nummer 24, sondern 27. Schon nach dem ersten Klingeln öffnete ihm ein kleiner glatzköpfiger Mann die Tür. Er war korpulent, aber nicht dick und wirkte wie ein ehemaliger Preisringer. Auf die siebzig musste er zugehen, schätzte Vlassi, was ihm gefiel. Junge Ärzte konnte er seit dem Pharma-Fall, wo er mit Vergiftungssymptomen in eine Mainzer Klinik eingeliefert wurde, nicht ausstehen. Dieser Niebergall schien Erfahrung zu besitzen.
„Sie sind Herr Spyridakis?“, begrüßte ihn der korpulente Herr.
„In Person“, bejahte Vlassi.
„Kommen Sie herein, ich bin Doktor Niebergall, und Ihr Besuch wurde mir von meinem alten Freund Hillberger angekündigt.“
„Er hat Sie mir dringend empfohlen“, teilte Vlassi mit.
Dr. Niebergall führte ihn in sein Behandlungszimmer, einen Raum mit einem großen Schreibtisch, hinter dem ein opulenter Ledersessel stand, einer Bücherwand bis zur Decke und einem Besuchersessel. Nun ja, vielleicht sollte man eher von einem Sesselchen sprechen.
„Nehmen Sie Platz“, forderte ihn der Psychotherapeut auf.
Vlassi setzte sich zögernd, das Sesselchen wippte auf und nieder und schien nicht sehr stabil zu sein.
„Fühlen Sie sich wohl?“, eröffnete Dr. Niebergall das Gespräch.
„Ja … eigentlich schon.“
„Das glaube ich nicht“, erwiderte Niebergall und sah ihn ernst an.
„Warum denn?“, wollte Vlassi wissen.
„Sie sagen nicht die Wahrheit“, teilte der Psychiater mit und ließ sich in seinen schweren