viel größer wirkte. Seine Glatze schimmerte auf einmal rosa, und seine Knollennase schien jedes Geruchsmolekül einzusaugen. Roch Dr. Niebergall etwa Angst bei ihm?
„Ich habe keine Angst“, erklärte Vlassi.
„Das rieche ich, und das meinte ich auch nicht“, teilte ihm der Psychiater mit.
„Was meinten Sie denn?“, wagte sich Vlassi vor.
„Sind Sie außer Gefahr?“
„Bin ich außer Gefahr?“, wiederholte der Kommissar.
Sein Gegenüber nickte und wiederholte drängend: „Sind Sie außer Gefahr?“
Vlassi griff wegen seines schwankenden Sesselchens zur Schreibtischkante: „Also … ich weiß nicht … ich führe ja generell ein gefahrvolles Leben, im letzten Fall wäre mir beinahe eine Theatertruppe zum Verhängnis …“
Dr. Niebergall unterbrach ihn: „Schon gut, schon gut. Sind Sie im Moment außer Gefahr?“
„Ich glaube schon … oder sind Sie die Gefahr?“
Der Psychotherapeut beugte sich vor: „Glauben Sie, ich wollte Sie umbringen?“
„Ich hoffe doch nicht, Sie wirken nicht wie ein Umbringer. Ich verspreche mir stattdessen etwas von Ihnen, also ich will sagen, ich glaube ans Heil von Ihnen.“
Dr. Niebergall lehnte sich wieder zurück und sagte enttäuscht: „Heil ist ein theologischer Begriff. Den können Sie bei mir weglassen.“ Er machte eine kurze Pause: „Natürlich sind Sie in Gefahr! Haben Sie das nicht gemerkt?“
„Ehrlich gesagt: nein“, teilte Vlassi mit unschuldigem Augenaufschlag mit, „könnten Sie mir sagen, woher mir Gefahr droht?“
Dr. Niebergall wippte wieder nach vorn und sagte mit unheilvoller Stimme: „Ihnen droht Gefahr von dem kleinen Sessel, auf dem Sie sitzen.“
„Von dem?“, erwiderte Vlassi und erhob sich sofort, „ist der vergiftet und dringt das Gift schon in mein Zeugungsorgan und meinen ganzen Unterleib? Wird es mich dahinraffen?“
Auf dem Gesicht des Psychiaters zeigte sich kein noch so winziges Schmunzeln. Mit ernstem Gesicht teilte er mit: „Sie denken viel zu verquer. Von Gift kann keine Rede sein. Aber der Sessel, auf dem Sie sitzen, ist doch wahrlich nicht bequem, Sie müssen sich doch schon am Schreibtisch festhalten.“
Vlassi ächzte beruhigt auf und ließ sich wieder nieder: „Da haben Sie recht, es ist eine unbequeme Sitzgelegenheit, die einen zu Fall bringen könnte.“
„Sie sagen es. Zu Fall bringen! Wer sich auf so einen Stuhl setzt, ist auch generell gefährdet.“ Der psychologische Psychotherapeut sah unseren Kommissar von oben an: „Es ist mein Testsessel. Er sagt mir viel über meine Patienten.“
Vlassi gab ein leises Stöhnen von sich. Es handelte sich natürlich um ein theatralisches Stöhnen, schließlich hatte ihn der letzte Fall gelehrt, dass man mit schauspielerischen Fähigkeiten weit kommen konnte. Dann sagte er mit trostloser Stimme: „Also bin ich generell gefährdet?“
„Der Sessel, auf dem Sie sitzen, sagt es mir.“ Dr. Niebergall stützte sich mit seinen Ellbogen auf den Schreibtisch und legte seine Hände aufs Gesicht, sodass nur noch die Knollennase hervorlugte. Schließlich sprach er: „Darf ich Ihnen noch etwas mitteilen?“
„Unbedingt. Ich bin offen für alles.“
„Dann muss ich Ihnen sagen, Herr Spyridakis, Sie sind etwas begriffsstutzig.“
„Tatsächlich?“, fragte Vlassi neugierig.
Niebergall nahm die Hände von seinem Gesicht: „Wie lange Sie gebraucht haben, die Funktion des Sessels unter Ihnen zu erkennen!“
Vlassi stimmte dem Psychiater zu dessen Erstaunen zu: „Da haben Sie irgendwie recht. Ich würde allerdings nicht von begriffsstutzig sprechen, sondern von intuitiver Vorsicht. Ich wollte Sie zuerst kommen lassen.“
Der Doktor sah ihn verdutzt an. Jetzt lächelte er. Offenbar gefiel ihm die Reprise seines Patienten.
„Ich merke“, sagte er anerkennend, „dass Ihre Fähigkeiten versteckt gehalten werden …“
„Ja, ja“, nickte Vlassi, „und wissen Sie auch, von wem?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern gab dem Psychiater sogleich Aufklärung: „Von meinem unterirdischen Ich! Da werden sie unter Verschluss gehalten bis zu ihrem Ausbruch.“
„Aha, intuitive Vorsicht.“, beugte sich Dr. Niebergall vor.
Vlassi lehnte sich auf seinem schwankenden Sesselchen zurück und bewegte sein Haupt bejahend von oben nach unten.
Der Psychotherapeut schmunzelte, legte seine Hände auf die Brust und wollte mit entspannter Stimme wissen: „Was ist denn nun der Grund Ihres Besuchs?“
„Ja also … ich bin tot, ich fühle mich mausetot …“
Dr. Niebergall fiel ihm ins Wort: „Das Leben besteht aus Momentaufnahmen. Klick – und schon vorbei. Noch ein Klick, und wir sind tot. Im Grunde sind wir alle tot, wissen es nur nicht.“
Vlassi ließ sich nicht beirren: „Außerdem habe ich mein Gedächtnis verloren. Ich bin ein Toter ohne Gedächtnis …“
„Ohne Gedächtnis sind Sie“, unterbrach ihn Niebergall.
„Ja, furchtbar“, stimmte Vlassi zu.
Der Therapeut lehnte sich zurück und erklärte dann dozierend: „Gedächtnisschwund kann die Folge einer frühkindlichen Konstellation sein.“
„Frühkindlich?“, fragte Vlassi erstaunt, „das wäre ja dann schon lange her.“
Niebergall legte den rechten Zeigefinger auf sein Kinn: „Die Zeit spielt keine Rolle für die Psyche. Auch nach vielen Jahren kann eine frühkindliche traumatische Situation wieder aufbrechen. Gewissermaßen sich aus dem Unterbewusstsein ins Bewusstsein schieben.“
„Tatsächlich? Das wusste ich nicht“, murmelte Vlassi.
„Man kann nicht alles wissen, deshalb gibt es mich ja“, belehrte ihn der Psychiater.
„Aber wieso schiebt sich das jetzt vor, dieser Schwund meines Gedächtnisses?“
„Darauf kann ich Ihnen eine eindeutige Antwort geben. Schuld an dem frühkindlichen Trauma sind durchweg die Eltern.“ Dr. Niebergall hob seine Hände in Kopfhöhe und spreizte die Finger. Es sah aus, als wolle er sich mit ihnen gleich auf Vlassi stürzen, um ihn mit seinen Fingerklauen erwürgen.
Der erwiderte gelassen: „Da müsste ich ja direkt in meine Kindheit zurück und meine Eltern knallhart befragen. Was habt ihr mir angetan, dass ich jetzt als Toter ohne Gedächtnis herumlaufe?“
Der Psychotherapeut ließ die Hände sinken: „Nicht befragen, schon gar nicht knallhart. Die Eltern wissen ja nichts von ihrem Fehlverhalten, von ihrer Fehlbildung, möchte ich sagen …“
„Aber doofe Eltern habe ich nicht“, fiel ihm Vlassi ins Wort, „vielleicht nur ein wenig ungebildete.“
Dr. Niebergall ging auf seinen Einwand nicht ein, sondern tremolierte: „Plötzlich weiß man nicht mehr, wer man ist. Plötzlich glaubt man, tot zu sein. Plötzlich ist alles sinnlos. Das sind Symptome …“
Wieder fiel ihm Vlassi ins Wort: „Sie meinen, ich bin … geistesgestört.“
„Lieber Herr Spyridakis“, sagte der psychologische Psychotherapeut, „Geistesgestörtheit ist ein Rechtsbegriff, mit dem arbeitet unsereiner nicht.“
„Vielleicht habe ich auch etwas Böses getan?“, murmelte Vlassi.
„Böse und gut sind wiederum theologische Begriffe, damit kommen wir auch nicht weiter.“
„Aber ich komme häufig damit weiter“, widersprach Vlassi zaghaft.
„In Ihrem Beruf vielleicht“, brummte Dr. Niebergall,