etwas Böses getan?“
„Ich weiß es eben nicht.“
„Das Gedächtnis, richtig, es ist Ihnen abhandengekommen“, stellte der Therapeut fest. Er machte eine kleine Pause, sah einen Moment an die Decke und teilte dann mit: „Das Einzige, was für unsereinen zählt, ist die Verhaltensweise. Können Sie mir ein Beispiel sagen, das Sie an Ihrer Vernunft zweifeln lässt?“
Oh, da könnte ich mit vielen Beispielen aufwarten, ging es Vlassi durch den Kopf. Von den Enten im Kurpark, die mir keine Antwort gaben, darf ich überhaupt nichts erzählen, da ruft dieser Niebergall gleich den Notdienst an.
Der Psychotherapeut warf einen lauernden Blick zu ihm: „Sagen Sie, nehmen Sie Drogen?“
„Auf keinen Fall!“, rief Vlassi aus, „Drogen halte ich von mir fern.“
„Und Alkohol?“, wollte Dr. Niebergall wissen.
„Ich bin abstinent, ich trinke nur Moringa-Tee.“
„Was ist denn das?“, fragte Dr. Niebergall, wartete aber nicht die Antwort ab, da er sich gleich dachte, dass es sich um ein Gesundheitsgebräu handeln musste.
Er wollte stattdessen wissen: „Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal diesen Tee getrunken haben?“
Vlassi legte den Kopf nach hinten, um schließlich mitzuteilen: „Das ist mir auch entfallen. Ich weiß aber, dass ich mit Herrn Hillberger in Eltville einen Kaffee getrunken habe.“
„Wann war das?“
„Vielleicht vor Jahren …“, sinnierte Vlassi.
Nun wurde es dem Therapeuten zu bunt: „Was? Vor Jahren? Wollen Sie mir einreden, dass Sie seit Jahren unter Gedächtnisschwund leiden?“
Vlassi räusperte sich: „Auch das kann ich Ihnen nicht beantworten, aber Sie haben wohl recht.“
Dr. Niebergall erhob sich mit einem Ruck von seinem Sessel: „Hinaus mit Ihnen!“
Vlassi ergriff wieder die Kante des Schreibtischs, da der kleine Sessel unter ihm die Aufforderung des Arztes wohl auf sich bezogen hatte und so bedenklich schwankte, als wolle er höchstselbst forteilen.
„Aber warum denn?“, fragte er den aufgebrachten Dr. Niebergall.
Der legte die Hände auf seinen Schreibtisch und teilte mit: „Es gibt keinen Gedächtnisschwund, der sich über Jahre hinzieht.“
„Bei mir vielleicht doch“, widersprach Kommissar Spyridakis. „Ich bin vermutlich eine medizinische Ausnahme, gewissermaßen ein Fall für die Lehrbücher.“
„Sie wollen mich wohl vergackeiern! Scheren Sie sich zum Teufel.“
Vlassi erhob sich von seinem wackeligen Sitz: „Ja, meinen Sie denn, der könnte mir helfen?“
„Ich hoffe es!“, rief der Psychiater und wies mit der Hand zur Tür, „bei dem sind Sie in den besten Händen, der wird Sie kurieren.“
4 Die Hölle schmeckt nicht übel
Vlassi fuhr die Rheinuferstraße entlang. Er war auf dem Rückweg in Richtung Wiesbaden. Nach dem Rauswurf bei Dr. Niebergall war er zum Geisenheimer Dom geschlendert und hatte überlegt, ob ein Besuch desselben ihn aufmuntern könnte.
War das etwa ein Anfall von Gläubigkeit? Konnte man in einer Kirche aufgemuntert werden? Lieber Gott, ich könnte eine Aufmunterung vertragen … nein, nein, so ein Ansinnen ist ja unmöglich … ich habe es mit einem menschlichen Problem zu tun, mit einem Vlassi-Problem, damit kann ich nicht den Höchsten belästigen, was soll der von mir denken.
Aber einen Kaffee könnte ich mir gönnen, überlegte Kommissar Spyridakis. Hier in diesem wunderbaren Geisenheim werde ich eine wohlverdiente Tasse Kaffee zu mir nehmen, das habe ich mir nach diesem quälenden Besuch bei Dr. Niebergall verdient.
Schon saß er im Garten eines nahe dem Dom gelegenen Cafés bei Kaffee und Kuchen. Der erste Schluck des heißen Getränks tat ihm gut, sodass er dachte, ich sollte vielleicht vollends zu Kaffee übergehen und den gesunden Moringa-Tee ganz beiseitelassen. Moringa könnte mir in meiner verqueren Lage jetzt auch nicht helfen, er würde mich einlullen und mir vorgaukeln, dass ich gesund bin und immer gesünder werde. Wo doch das Gegenteil der Fall ist! Ich bin nicht nur tot, ich bin ein totes Wrack – so fühle ich mich jedenfalls. Obwohl eigentlich alles an mir noch dran ist. Alles? Die Erinnerung fehlt halt.
Vlassi lehnte sich zurück. Das Gespräch mit dem psychologischen Psychotherapeuten ging ihm durch den Kopf. Schon die Berufsbezeichnung ist doch irgendwie übertrieben, eigentlich doppelt gemoppelt. Dieser Niebergall, überlegte er weiter, war zwar rabiat, doch dämlich kam er mir nicht vor.
Wir sind alle tot, sagte er, wissen es nur nicht. Das schien Vlassi auf einmal ein sehr wahres Wort zu sein. Die meisten wissen nicht, dass sie als tote Typen durch die Gegend irren, ich dagegen schon. Tot ist doch mal was anderes. Wer will denn schon immer leben. Jene Leute, die gerade dem Dom zustreben – sie glauben doch nur, dass sie lebendig sind, in Wirklichkeit werden sie lediglich durch ein Inneres aus Holzwolle aufrecht gehalten. Die sind vermutlich völlig unlebendig, haben aber keine Ahnung von ihrem desolaten Zustand. Aber was hilft es mir, dass ich es weiß …
Ihm fiel ein, dass Dr. Niebergall seine Eltern als Schuldige ausgemacht hatte, sie seien verantwortlich für seine jetzige Situation. Ach ja, immer die Altvorderen, das ist wohl ein bewährtes Rezept von solchen Niebergallen. Wenn ihnen sonst nichts einfällt, müssen die Eltern herhalten. Seinen Eltern, dachte Vlassi, konnte er überhaupt keinen Vorwurf machen.
Sie hatten ihn ins Leben gebracht und nicht in den Tod gestoßen, in dem er sich jetzt wähnte. Sie hatten getan, was sie tun konnten, hatten nicht nur seinen Plan, aufs Gymnasium zu gehen, gefördert, sondern auch seine Polizei-Ambitionen unterstützt. Ein Grieche in der deutschen Polizei! Das war ziemlich ungewöhnlich, aber bald schon Realität.
Vlassi kam in den Sinn, dass der Psychotherapeut an einer gewissen Stelle ihres Gesprächs ausgerastet war. Wollen Sie mir einreden, dass Sie seit Jahren unter Gedächtnisschwund leiden?, hatte er ausgerufen. Und danach kam der Hinauswurf. Einen Gedächtnisschwund, der sich über Jahre hinzieht, gäbe es nicht.
Vlassopolous Spyridakis griff nachdenklich zu seiner Tasse Kaffee. Vielleicht war der Besuch bei Dr. Niebergall doch nicht ganz umsonst gewesen. Vielleicht war Vlassis naseweiser Hinweis, dass er ein Fall für die medizinischen Lehrbücher sei, ganz daneben. Vielleicht lag der Arzt richtig mit seinem Zorn.
Es musste einen Vorfall geben, der ihm den Tod beschert und das Gedächtnis geraubt hatte – einen Vorfall, der nicht Jahre zurücklag, sondern in der jüngsten Vergangenheit siedelte. Die jüngste Vergangenheit? Gerade die war ihm abhandengekommen. Er konnte im Grunde froh sein, dass er noch seinen Namen kannte und wusste, was er beruflich trieb. Hätte er nicht auch der Vorstellung anhängen können, dass er bei der Müllabfuhr seine Brötchen verdiente? Am Bahnhof Klos reinigte? Oder beim Standesamt Heiratswilligen die Ringe ansteckte? Nein, er wusste, dass er bei der Polizei arbeitete, er wusste, dass Julia Wunder seine Chefin war, er wusste, dass er mit Carola befreundet war, er wusste sogar, dass Kriminalrat Feuer ein besserwisserischer Vorgesetzter war und seit Jahren nach Höherem strebte.
„Herr Doktor Niebergall“, murmelte Vlassi, „ich muss Abbitte leisten, Sie hatten recht, es handelt sich bei mir nicht um einen jahrelangen Gedächtnisschwund. Sie sind ein wahrer psychologischer Psychotherapeut.“
Er hielt inne und dachte: Und deshalb werde ich auch nicht den Teufel aufsuchen. Wie sollte der mir helfen, wahrscheinlich wäre er unzufrieden mit mir und würde mir sogar einen Aufenthalt in der Hölle verweigern. Obwohl ich einen Besuch dort ganz interessant fände, es muss ja nicht lang dauern, mehr so ein Hineinschnuppern könnte es sein …
Im selben Moment kam Vlassi der Gedanke, dass er sich eigentlich schon in der Hölle befand. Hölle! Hölle! Das ist doch nur das Pseudonym für eine ausweglose Situation! Wer sich nicht an die jüngste Vergangenheit erinnerte, wer als erinnerungsloser Toter durch die Gegend schlappte – war der nicht