Lothar Schöne

Mord oder Absicht?


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wäre, und sie zog sogar einen wackeligen Einkaufswagen hinter sich her. Die Frau warf einen Blick zu ihm, als würde sie Ähnliches von ihm denken. Das hatte schon eine gewisse Berechtigung, denn Lustig wirkte mit seinem unrasierten Gesicht, seiner grauen unansehnlichen Joppe und seinen zu kurzen Hosen nicht gerade wie jemand, der gerade seinen Jaguar aus der Garage holen wollte. Freilich hielt ihn ihr Blick nicht davon ab, sie anzusprechen.

      „Hier ist es ganz ruhig“, sagte er.

      Die Frau erwiderte mit heller, klarer Stimme: „Warum auch nicht. Die Ruhe ist ein Labsal.“

      „Vollkommen richtig. Ich suche sie immer, finde sie aber selten. Sie haben nicht zufällig einen kleinen Knall gehört?“

      „Wie bitte? Einen Knall?“, fragte die Frau, „meinen Sie, jemand feiert vorzeitig Silvester?“

      „So ungefähr“, stimmte Lustig zu.

      „Ah, Sie sind vom Ordnungsamt. Da hat sich jemand beschwert.“

      Lustig blieb nichts anderes übrig als zuzustimmen und teilte mit: „Wissen Sie, ein Knall zieht den nächsten nach sich, das wächst sich zur Böllerei aus – ein Erfahrungswert.“

      „Hier nicht!“, erwiderte die Frau mit heiterer Stimme, „hier bleibt alles ruhig, und wenn es noch so knallt.“

      Wenn es knallt, ist es doch gar nicht ruhig, dachte Lustig, wollte aber nicht naseweis erscheinen und sagte deshalb: „Ja, da haben Sie ganz recht, aber wir sind halt genötigt, solchen Knall-Beschwerden nachzugehen.“

      Die Frau hob den Kopf: „Wissen Sie, ich freue mich direkt, wenn es mal knallt.“

      „Tatsächlich?“, fragte Lustig.

      „Ja“, nickte die Frau und beugte sich zutraulich zu ihm: „Ich bin nämlich etwas schwerhörig.“

      Da bin ich ja an die Richtige geraten, ging es Lustig durch den Kopf, doch sein Gegenüber sprach schon weiter: „Wissen Sie, wenn ich einen Knall höre, weiß ich, dass ich noch am Leben bin.“

      „Ja, ja“, murmelte Lustig und dachte: vorausgesetzt, der Knall rührt nicht von einem Schuss, der dich aus dem Leben befördert, ohne dass du es merkst.

      „Was haben Sie gesagt?“, wollte die etwas schwerhörige Frau wissen.

      „Nichts habe ich gesagt“, antwortete Lustig mit lauter Stimme, als ihm etwas einfiel: „Wohnen Sie hier in der Straße?“

      „Reden Sie doch nicht so laut“, ermahnte ihn die Frau, um ihn mit leiser Stimme aufzuklären: „Ja, ich wohne hier, gleich im nächsten Haus.“

      Ernst Lustig überlegte, ob er noch etwas von ihr erfahren könnte, aber was sollte er fragen? Leben Sie allein? Mit einer Katze? Oder nur mit einem wackeligen Einkaufswagen?

      Die leicht Schwerhörige nahm ihm die Frage ab und teilte mit: „Hier in dieser Straße wohnen nur Prominente.“ Sie machte eine Pause, als wollte sie überprüfen, ob ihr Gesprächspartner beeindruckt war.

      Lustig erkannte ihr Begehr, verzog seine Miene und nickte anerkennend.

      „Das hätten Sie nicht gedacht, was!“

      „Nie und nimmer“, stimmte Lustig zu, dachte aber: Wenn die alle so rumlaufen wie du, ist Prominenz nur ein anderer Ausdruck für Ebbe im Portemonnaie.

      „Wissen Sie“, fuhr die Frau fort, „wer mein Nachbar ist?“

      „Da bin ich überfragt“, antwortete Lustig.

      „Nicht so laut!“, mahnte die Schwerhörige, obwohl Lustig ganz normal gesprochen hatte.

      „Da bin ich überfragt“, wiederholte er wispernd.

      Im gleichen Tonfall, als würde sie ein Geheimnis verraten, teilte sie ihm mit: „Mein Nachbar ist Frederick Reinhardt.“

      „Aah“, machte Lustig, als wäre ihm eine Offenbarung zuteilgeworden, dabei konnte er mit dem Namen gar nichts anfangen.

      „Ja, ja“, nickte sie, „ein angenehmer Mensch ist das, nur seinen Garten vernachlässigt er.“

      Ernst Lustig dachte: Was nutzt mir ein angenehmer Mensch, wenn er nicht mordet? Offenbar mordet er lediglich seinen Garten durch Nicht-Pflege.

      Laut fragte er allerdings: „Hat es bei dem vielleicht geknallt?“

      Die Frau schüttelte den Kopf, griff nach ihrem Einkaufswagen und ging wortlos von dannen. Offenbar hielt sie die Fortführung des Gesprächs mit dem Mann vom Ordnungsamt für sinnlos, da der ja doch nur an Knallsündern interessiert war.

      6 Schon von den Aufgewachten gehört?

      Im Café Rondo in Schierstein war inzwischen ein weiterer Kaffee bei den Herren Spyridakis und Born angekommen. Volker Born schlurfte genüsslich an seiner Tasse, während Vlassi die seine vorsichtig an die Lippen hielt und ihm durch den Kopf ging, dass er eventuell schon zu viel von dem schwarzen Bohnensaft zu sich genommen hatte. Oder half ihm der eventuell sogar weiter, löste er seine Erinnerungsblockade?

      Born räusperte sich: „Ich sagte, dass wir ins zeitgenössische Leben eintauchen müssen. Ich sagte, dass ich Sie aufklären will. Wohlan! Sind Sie bereit?“

      „Auf jeden Fall. Wenn Sie mein Aufklärer sind, bin ich immer bereit“, erwiderte Vlassi und setzte seine Tasse ab, nachdem er einen winzigen Schluck getrunken hatte.

      „Haben Sie schon von den Aufgewachten gehört?“, fragte Born.

      „Die Aufgewachten“, sinnierte Vlassi und dachte: Das wäre was für mich, ich müsste auch aufwachen und mich an alles erinnern. Er sah sein Gegenüber an und schüttelte den Kopf: „Nö.“

      „Die Aufgewachten gelten in gewissen Kreisen lediglich als Coronaleugner. Sie werden verwechselt mit den Querdenkern …“

      Vlassi murmelte: „Querdenker kenne ich auch nicht. Oder meinen Sie mich?“

      Born, der bisher entspannt dagesessen hatte, richtete sich auf und wirkte nun wie ein Lehrer, der einem störrischen Schüler das Pensum erklären muss: „Ich bitte Sie! Leben Sie denn gar nicht in der Gegenwart? Wer im Hier und Heute sein Dasein fristet, muss doch von Querdenkern und Aufgewachten gehört haben!“

      Vlassi gestand: „Ich lebe wohl nicht so richtig im Hier und Heute. Vielleicht bin ich aus der Zeit gefallen.“

      „Es ist ein großes Glück für Sie, dass Sie mich getroffen haben“, teilte ihm Volker Born mit.

      Davon war Vlassi nicht überzeugt, denn was sollten ihm Querdenker und Aufgewachte, er kämpfte mit einem ganz anderen Problem.

      Schon sprach Born weiter: „Die Querdenker lassen wir jetzt mal beiseite, das sind überwiegend Verschwörungsmystiker und Leute, die dem rechten Gedankengut zugetan sind …“

      „Rechtsradikale?“, flocht Vlassi ein.

      Born ging nicht auf seine Frage ein. „Aber wissen Sie, wie sich die Aufgewachten verstehen?“

      Unser Kommissar schüttelte ratlos den Kopf.

      „Die Aufgewachten“, erklärte Born, „haben erkannt, was in Deutschland und der Welt vor sich geht, nämlich …“

      Vlassi fiel ihm ins Wort: „Mord und Totschlag.“

      „Nein“, korrigierte Born, „Lüge und Verdummung sind an der Tagesordnung. So denken sie jedenfalls. Die Medien verdummen und verwirren uns angeblich. Und all jene, die das nicht glauben, nennen die Aufgewachten Schlafschafe.“

      „Was wäre ich dann?“, fragte Vlassi nachdenklich, „bin ich vielleicht ein doppeltes Schlafschaf? Wo mir doch noch nicht mal die Aufgewachten geläufig waren, ich meine, ich kannte das Wort gar nicht.“

      Born musterte ihn skeptisch, als würde ihm durch den Kopf gehen, dass Vlassi möglicherweise zu den Doppel-Schlafschafen gehörte. Dann sagte er: „Ich registriere Sie als Ausnahme.