sein ureigenes Problem ein: „Man könnte auch sagen: Schwarzer Humor ist, wenn man aus der Erinnerungslosigkeit einen Witz über das Diesseits macht.“
„Nein, nein“, widersprach Born, „Sie verderben ja die Pointe. Bleiben Sie bei der ersten Fassung, die ist druckreif.“
Die Kellnerin kam und brachte ihre Kaffees. Born nahm einen Schluck, um dann sein Gegenüber zu fragen: „Erinnerungslosigkeit, wie kommen Sie denn darauf?“
„Ich bin doch sprachtüftelig. Da fällt einem so was ein.“
Born setzte seine Tasse ab: „Trinken Sie einen Schluck Kaffee. Der macht Sie weniger sprachtüftelig. Zu viel Sprachtüftelei ist ungesund.“
Vlassi schaute auf seinen Kaffee, nahm schließlich die Tasse in die Hand, ohne sie an den Mund zu führen.
„Trinken Sie nicht? Warten Sie auf eine Eingebung von oben?“, fragte der Theologe Born.
Jetzt setzte Vlassi die Tasse an seine Lippen und trank, allerdings etwas zögerlich. Dann setzte er sie ab und sagte zu Born: „Wissen Sie, ich frage mich manchmal, weshalb wir eine Erinnerung haben. Wenn wir keine hätten, wäre doch alles jeden Tag neu. Wir könnten uns in dieselbe Frau verlieben, würden es nicht wissen, und alles wäre wie beim ersten Mal.“
„Weil uns die Erinnerung fehlt“, stimmte Born zu. „Aber denken Sie daran, was uns die Erinnerung gibt.“ Sein Gesicht verwandelte sich in ein Fragezeichen, und Vlassi wusste, dass er dieses Fragezeichen auflösen sollte.
Er kramte in seinen grauen Zellen, um schließlich vorsichtig zu antworten: „Die Erinnerung … gibt uns die Vergangenheit, wir wissen dann … was geschehen ist.“
Born nickte: „Richtig. Auch das vermag sie. Aber das Wichtigste ist, dass sie uns an die Liebe gemahnt. Wer die Liebe vergessen hat, der hat das Wichtigste …“
Vlassi stimmte sofort ein: „Die Liebe, ja, ja.“
Denn er erinnerte sich, dass er Carola liebte, jedenfalls war da eine tiefe Zuneigung. Erleichtert stöhnte er auf und griff zur Tasse, um einen weiteren Schluck zu nehmen.
Volker Born fragte: „Sie stöhnen. Sie denken doch hoffentlich nicht an Erotisches jetzt?“
„Nein, überhaupt nicht, mir ist nur meine Freundin eingefallen und ihre Kochkünste.“
Der Theologe sah ihn scharf an, erwiderte aber nichts, sondern trank einen Schluck von seinem Kaffee.
Vlassi deutete seinen Blick richtig: „Sie denken jetzt, ich liebe sie nur wegen ihres guten Essens. Nein, ich liebe sie auch ohne Essen.“
Und er dachte: Es ist mir sogar lieber, wenn sie nicht kocht, bei ihren nicht ausgelebten Kochkünsten entgehe ich einem unerwarteten Vergiftungstod am Esstisch.
Als hätte Volker Born seinen Gedanken gehört, stellte er fest: „Nun ja, es gibt auch Menschen, die aus Liebe morden, Sie brauchen sich nur an Ihren letzten Fall zu erinnern.“
Vlassi dachte sofort scharf nach. Ja, es fiel ihm ein. Der letzte Fall hatte ihn doch in diese Schauspieltruppe geführt und nach Rüdesheim zu dieser … wie hieß sie nochmal … Lisbeth. Sein Gedächtnis schien wieder zu funktionieren, und er erinnerte sich auch, dass er bei seiner Schauspielerei sogar mit dem Tod geprobt hatte. Das war ein Bursche von der Sorte Nimm, aber ansonsten gar nicht unsympathisch, dieser Herr Tod. Doch er, Vlassi, war ihm nicht auf den Leim gegangen, den tödlichen.
Born sprach weiter: „Aber Mord aus Liebe ist eine Verirrung, das habe ich Ihnen schon einmal gesagt.“
„Eben!“, stimmte Vlassi zu, „ich erinnere mich sehr gut, dass Sie mir diesen Hinweis gegeben haben.“
Volker Born grinste: „Einen bedeutenden Satz vergisst man nicht so schnell, und ich neige zu bedeutenden Sätzen.“
„Da kann ich zustimmen“, sagte Vlassi, der sowohl die Ironie in den Worten Borns erkannte als ihm auch ein Kompliment machen wollte. Überhaupt war er froh, den Theologen getroffen zu haben, der kitzelte Dinge aus ihm heraus, die ihm alleine wahrscheinlich gar nicht eingefallen wären. Der Mann war ja geradezu ein Erinnerungs-Hervorlocker.
In dem Moment beugte sich Volker Born vor: „Lassen Sie uns nicht weiter von der Vergangenheit reden. Die Gegenwart ist spannender.“
„Wirklich?“, fragte Vlassi.
Born schwang zurück: „Lass Moder den Erlösten, lass Schimmel den Verblichenen, lass Fäulnis den Verwesten.“
„Das denke ich mir auch immer bei meinen Mordfällen“, stimmte Vlassi zu, „aber der Moder weht mitunter in die Gegenwart, und die Fäulnis kann ich sogar riechen.“
„Ich weiß, was Sie meinen. Es ist Ihr Beruf, sich damit zu beschäftigen, Ihnen bleibt nichts anderes übrig.“
„Ihnen doch eigentlich auch nicht“, erwiderte Vlassi und dachte dabei an Born als Pfarrer, der die Verblichenen beerdigen und die Trauernden trösten musste.
„Ich rede doch nicht vom Tod“, erklärte Born, „ich rede vom Leben.“ Er machte ein verschmitztes Gesicht und wiederholte: „Lass Moder den Erlösten.“
Vlassi sah ihn verdutzt an: „Kann Ihnen im Moment nicht ganz folgen.“
„Herr Spyridakis“, sagte Born gravitätisch, „ich will Sie sogleich aufklären. Vorher sollten wir aber noch einen Kaffee bestellen. Meiner ist mittlerweile kalt, um nicht zu sagen tot. Und es widerstrebt mir, toten Kaffee zu trinken.“
*
Während Vlassi mit Volker Born ein Gespräch führte, das ihm nach und nach die Lücken seiner Erinnerung füllte, saß sein Kollege Ernst Lustig in Mainz an seinem Schreibtisch und starrte in die Luft.
Er hatte gerade einen Anruf von seinem Chef bekommen, der ihn an einen Tatort beorderte. Was denn passiert sei, wollte Lustig wissen. Das eben solle er herausfinden, Genaues wisse man nicht, doch eine Frau habe angerufen, weil sie Schüsse gehört habe. Schüsse verheißen nichts Gutes, erklärte ihm der Chef, vor allem, wenn sie in einem Vorort wie Gonsenheim die gutbürgerliche Ruhe zerschneiden.
Lustig war dieser Auftrag gar nicht recht. Es ging auf den Feierabend zu, und den verbrachte er lieber im Weinhaus Michel in der Altstadt als in einem kugelverseuchten Vorort. Er seufzte laut auf und erhob sich. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als nach Gonsenheim zu fahren, um nach dem Rechten zu sehen.
„Immer bleibt so was an mir hängen“, murmelte er, „hätte ich einen Assistenten wie den Spyridakis, könnte ich den schicken.“ Und er dachte: In unserem Rheinland-Pfalz, diesem armseligen Rüben- und Reben-Land, hat man ja kein Geld für die Polizei, hier folgen großen Worten immer nur kleine Taten. Kleine Taten? Sagen wir besser: klitzekleine Taten – wenn überhaupt welche.
Kriminalhauptkommissar Lustig musste in die Arndtstraße. Er wusste, wie man da hinkam, setzte sich in seinen betagten Golf und fuhr los. In Gonsenheim steuerte er die Breite Straße an, die gar nicht fürchterlich breit ist, sondern ihren Bewohnern nur vorgaukeln soll, dass sie auf einer Art Avenue flanieren, fuhr an der Maler-Becker-Schule vorbei, um schließlich in die Lennebergstraße abzubiegen. Nach einigen Querstraßen fuhr er rechts ab und erreichte die Arndtstraße. Ein schmales und nicht sehr langes Sträßchen war das, auf dem sich kein Mensch befand und auch nur wenige Autos am Rand parkten.
Lustig stellte seinen Golf hinter einer Mercedes S-Klasse ab. Ja, dachte er, hier leben gut situierte Leute, und die Häuser besitzen alle Garagen, in denen es vermutlich herrliche Oldtimer zu bewundern gibt. Seine Erfahrung lehrte ihn allerdings, dass die Kriminalität in solchen Regionen nicht gering sein musste, und kurz flirrte der Bankenfall durch sein Gedächtnis und die Frau von Rattray und ihre Schwester – elegante Personen waren das. Besser gesagt, elegante und gefährliche Personen.
In der Straße war es völlig ruhig, geradezu Friedhofsruhe herrschte. Was soll ich hier?, dachte Ernst Lustig. Von die Luft zerpeitschenden Schüssen ist nichts zu hören. Er ging die Arndtstraße hinab in der Hoffnung, vielleicht doch noch etwas Verdächtiges zu