lieber Ernst“, sagte Hillberger, „du siehst das zu eng. Wenn wir literarische Werke nur unter dem Gesichtspunkt beurteilen, welche Figuren im Mittelpunkt stehen und welche Schwächen …“
„Nenn’ mir andere Gesichtspunkte!“, rief Niebergall aus.
„Na ja, man könnte zum Beispiel fragen, wie der Datterich in diese Situation gekommen ist …“
Wieder unterbrach Dr. Niebergall seinen Freund: „In diese Situation? Durch eigenes Verschulden natürlich.“
Hillberger blieb gelassen: „Der Datterich ist unter die Spießbürger in Darmstadt verschlagen worden, wo er doch die Freiheit und das ungebundene Leben liebt. Der Wein ist ihm nicht nur Trost in dieser Umgebung, er ist ihm Heimat.“
„So also kann man seinen Alkoholismus rechtfertigen“, stellte der Psychiater sarkastisch fest.
„Ich will dich überhaupt nicht überzeugen, Ernst, aber wenn wir die Kunst unter dem Fallbeil der Moral beurteilen – da müssen wir uns von vielen großen Werken verabschieden.“
„Ja, soll denn die Kunst ohne Moral daherkommen?“, fragte der Ururur-Enkel des Datterich-Erfinders.
„Die Kunst soll nicht moralisieren“, erwiderte Wolfgang Hillberger, „das überlassen wir den Pfaffen. Die Kunst soll darstellen, was ist, und die Genießer dieser Kunst dürfen es beurteilen.“
Niebergall richtete sich in seinem Stuhl auf: „Ist das nicht ein bisschen wenig? Darstellen, was ist.“
„Das ist überhaupt nicht wenig. Warum ist Shakespeare so gut?“
„Das frage ich mich auch“, erwiderte Niebergall.
„Bitte werd’ nicht banal, Ernst. Du gehst schließlich hin und wieder auch mal ins Theater.“ Hillberger machte eine kleine Pause, um dann weiterzusprechen: „Shakespeare ist so gut, weil er nicht moralisiert. Er hat Falstaff und Othello und viele andere Figuren lediglich dargestellt, wie sie sind. Natürlich mit seiner wunderbaren Fantasie. Und Falstaff ist eine Figur, die man zu Beginn höchst unsympathisch findet, doch zum Schluss beinahe ins Herz schließt.“
„Ja, ja“, murmelte Dr. Niebergall widerwillig, „aber mein Vorfahr Elias ist kein Shakespeare.“
„Recht hast du. Der Ernst Elias Niebergall ist kein Shakespeare, aber ein Dichter eigener Art. Er hat den Leuten klargemacht, dass sie reden dürfen, wie man nicht reden soll. Tun sie’s, kommen sie ins Paradies.“
„Also jetzt übertreibst du maßlos“, entgegnete der Psychiater und hob seine Knollennase, „für mich ist mein Vorfahr lediglich ein Mundartdichter.“
„Ja, aber was hat er aus der Mundart herausgekitzelt“, erklärte Hillberger und fuhr in reinstem Darmstädter Dialekt fort: „Soviel mir bekannt is, Herr Niebergall, genieße Sie in de hiesiche Stadt und de umliegende Ortschafte net des best Renomeeh, sondern erfreie sich eines iwwele Rufs.“
Der Angesprochene senkte leicht den Kopf: „Ich ahnte es schon immer, dass du von meiner Tätigkeit und meinem Beruf nicht viel hältst.“
„Falsch, Ernst. Das war ein Zitat aus dem Stück deines Vorfahren, ich habe nur den Namen Datterich gegen deinen ausgetauscht. Der Herr Datterich erfreut sich eines üblen Rufs …“
„Das galt für seinen Autor wohl ebenfalls“, warf Dr. Niebergall ein.
„Ernst, hast du denn gar kein Sprachgefühl? Ist es nicht köstlich, dass sich jemand eines üblen Rufs erfreuen darf?“
Der Nachfahr des Darmstädter Autors schien nicht überzeugt, er sah betrübt auf seinen leeren Kuchenteller, als habe der ihn in dieses Gespräch reingeritten.
„Im Datterich, dem Stück“, fuhr Hillberger fort, „wird auch eine Schmeißfliege zum Schutzengel. Wunderbar, so ein Einfall.“
Dr. Niebergall kratzte von seinem Kuchenteller die letzten Krümel auf, offenbar konnte ihn auch dieser Einfall seines Urahns nicht beeindrucken.
Wolfgang Hillberger warf ihm einen bedauernden Blick zu: „Na, ich sehe, du bist und bleibst ein Psychiater, der allenfalls den Ernst, doch nicht den Witz in der Kunst erkennt.“
„Hältst du mich für beschränkt?“, fuhr Niebergall jetzt auf.
„Dich doch nicht. Aber viele deiner Kollegen sind es mit Sicherheit.“
Einen langen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden so ungleichen Männern, bis Hillberger schließlich sagte: „Weißt du, was man aus dem Datterich-Stück auch lernen kann?“
Dr. Niebergall murrte: „Na was?“
„Dass man sich nicht durch Misserfolge entmutigen lassen darf, dass man seiner Fantasie vertrauen soll und dass man anderen Leuten auf witzige Weise die Meinung sagen kann.“
„Das mach ich doch!“, erwiderte Niebergall, „ich sag’ den Leuten die Meinung, ganz ungeschminkt. Diesen Spyridakis habe ich sogar, wie ich dir schon erzählte, rausgeworfen.“
„Hast du es auch gewitzt getan?“, wollte Hillberger schmunzelnd wissen.
Die Antwort blieb aus, denn in dem Moment öffnete sich die Tür im Café Schwab und Julia Wunder kam herein. Wolfgang Hillberger sah sie sofort und winkte sie heran.
„Julchen, was machst du denn hier?“
„Ich weiß doch, wo ich dich antreffe, wenn du nicht daheim bist. Darf ich mich setzen?“
„Aber natürlich“, sagte ihr Vater. „Ich möchte dir Doktor Niebergall vorstellen, meinen neuen Kaffeebruder.“
Der Psychiater stand förmlich auf, um Julia die Hand zu reichen: „Niebergall. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“
„Ich kenne Sie bereits, wenn auch nur vom Namen her“, erwiderte Julia, legte ihren Mantel ab und hängte ihn an die Garderobe, die nur zwei Schritte entfernt war. Als sie zum Tisch zurückkam, erklärte sie: „Ich bin Julia Wunder, die Tochter von Herrn Hillberger.“
„Hauptkommissarin Wunder“, präzisierte Hillberger nicht ohne Stolz in Richtung seines Kaffeebruders.
Dr. Niebergall hatte wieder Platz genommen und fragte: „Dann haben Sie mir Ihren Kollegen geschickt, diesen Spyridakis?
„Ja, mein Vater hat Sie empfohlen.“ Julia räusperte sich: „Er hält große Stücke auf Sie.“
Wolfgang Hillberger nickte Ernst Niebergall von der Seite aus zu, als wolle er ihm bedeuten, dass seine Kritik an ihm zu relativieren sei. Große Stücke hielt er auf ihn, große Stücke waren schließlich keine Kleinigkeiten. Doch leider bemerkte der Psychiater seinen anerkennenden Blick nicht.
Die Kellnerin kam, und Julia bestellte lediglich einen Kaffee.
„Kein Kuchen?“, fragte ihr Vater, „du bist schließlich nicht nur unter Kaffee-, sondern auch unter Kuchenbrüdern.“
„Mir ist nicht danach. Außerdem wäre ich eine Schwester, eine Kuchenschwester, und die verschmähen meist Kuchen“, erwiderte Julia lächelnd.
Dr. Niebergall nickte anerkennend, der kleine Dialog schien ihm zu gefallen, was Hillberger nicht entging.
„Siehst du, lieber Ernst, meine Tochter und ich, wir sind theatererfahren und sprachbewusst, ich möchte sogar sagen Datterich-bewusst.“
„Datterich?“, wiederholte Julia fragend und wandte sich zu Niebergall: „Sind Sie ein Nachfahr des Darmstädter Autors?“
Hillberger nahm dem Psychiater die Antwort ab: „Ja, ja, das ist er, aber er gibt’s ungern zu.“
„Warum denn das?“, wollte Julia wissen.
Wieder antwortete ihr Vater: „Weil er seinen Vorfahren lediglich für einen Trinker und Schnorrer hält.“
„Hmm“, machte Julia. Sie wollte keinen weiteren Kommentar geben, da sie sich dachte, dass ihr Vater