Lothar Schöne

Mord oder Absicht?


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nein, es ist nichts, ich wollte nur wissen, wann das nächste Seminar stattfindet.“ Und nach einem kurzen Innehalten bedankte er sich und drückte auf den Aus-Knopf seines Handys.

      Dann sah er Vlassi triumphierend an: „Der Mann, den Sie umgebracht haben, lebt! Ja, ja, Tote leben länger als man mitunter glaubt.“

      „Er lebt?“, fragte Vlassi verdattert, hielt einen Moment inne und schob dann nach: „Lebt er wirklich oder tut er nur so?“

      Volker Born war etwas zusammengerutscht, jetzt streckte er sich und teilte seinem Tischnachbarn mit: „Gefällt mir, was Sie da eben gesagt haben. Es ist ein tiefgründiger philosophischer Satz.“

      „Ob er wirklich lebt oder nur so tut?“, wollte Vlassi wissen. „Ist mir gerade so eingefallen. Könnte doch sein?“

      „Lieber Herr Spyridakis, Sie sind ein intuitiver Denker und wissen nicht, was dieser Satz meint?“

      „Könnte ich nicht auch ein intuitiver Mörder sein?“

      „Nein, nein“, wehrte Born ab, „Mörder arbeiten doch nicht intuitiv, sie gehen mit Vorsatz, Überlegung und Gedankenkraft ans Werk. Schon aus diesem Grund kommen Sie für einen Mord nicht infrage.“

      Vlassi schien gar nicht von Borns Bemerkung gekränkt, zog stattdessen ein nachdenkliches Gesicht: „Reinhardt lebt, sagen Sie also. Aber haben Sie überhaupt mit ihm gesprochen?“

      „Sie waren doch gerade mein Zeuge!“

      Jetzt kehrte Vlassi den Kommissar heraus: „Man kann mit verstellter Stimme reden, das ist gar nicht selten. Passen Sie auf!“

      Und er hob seine Stimme in die höchste Oktave und wisperte seinem Gegenüber zu: „Ich glaube, mein lieber Herr Born, Sie verkennen die absolute Mordbereitschaft des Herrn Spyridakis.“ Um gleich darauf mit normaler Stimme zu fragen: „Wissen Sie, wer da eben geredet hat?“

      „Na Sie, kein anderer als Sie.“

      „Falsch, es war Hauptkommissarin Wunder, der ich meine Stimme geliehen habe. Verfremdung nennt man so was.“

      „Werden Sie nicht komisch“, murrte Born.

      „Es war ein Beispiel, das ich Ihnen gegeben habe“, erklärte Vlassi, „der angebliche Herr Reinhardt, mit dem Sie gerade gesprochen haben wollen, kann jemand ganz anderes sein. Ein Verstellkünstler.“

      „Einer wie Sie“, grinste Volker Born.

      „Es gibt sicher Steigerungen zu mir“, erklärte Vlassi in jäher Einsicht, „ich wollte Ihnen nur das Prinzip klarmachen.“

      „Ich habe also mit einem Mann telefoniert, der vorgibt, Frederick Reinhardt zu sein, sich also verstellt. Und diese Verstellung macht er, weil Reinhardt tot ist.“

      „Ganz genau!“, bestätigte Vlassi.

      Volker Born warf einen nachdenklichen, ja sogar einen sehr nachdenklichen Blick auf ihn, um dann Wort für Wort zu sagen: „Lieber Herr Spyridakis, sollten Sie nicht einmal den Polizeipsychologen aufsuchen und sich gründlich untersuchen lassen?“

      *

      Als Vlassi bei seinem Auto ankam, hatte er seinen Betrübnis-Anfall nach dem Gespräch mit Volker Born abgestreift. Weshalb sollte ich in Depressionen untergehen, weshalb mir Vorwürfe machen, weshalb noch einen weiteren Psychologen aufsuchen, der Niebergall reicht mir, dachte er und war sich auf einmal nicht mehr sicher, ob er jenen Reinhardt umgebracht hatte. Warum sollte er das auch getan haben? Darüber könnte er nachdenken. Er müsste nach einem Grund suchen, polizeilich gesprochen: nach einem Motiv fahnden. Aber genau daran haperte es, hier ließ ihn sein Gedächtnis wieder mal im Stich.

      Vlassi war sich auch nicht mehr sicher, ob Born nicht vielleicht doch mit diesem Frederick Reinhardt telefoniert hatte. Weshalb sollte denn ihn jemand mit verstellter Stimme nachahmen? Vielleicht habe ich mir alles eingebildet und sollte doch noch einmal Dr. Niebergall aufsuchen oder besser einen Kollegen von ihm und dem sagen, dass ich an Wahnvorstellungen leide.

      Er öffnete die Tür seines Corsa, und plötzlich wurde ihm klar, dass er am besten in eigener Person nachprüfen sollte, ob sein Toter ihm von einer Jenseits-Wolke zuwinkte oder vielleicht doch quicklebendig im Diesseits weilte. Schade, fiel ihm im nächsten Moment ein, dass ich nicht den Herrn Tod herbeirufen kann wie beim letzten Fall. Der war ja ganz hilfreich, und ich könnte mir die Fahrt jetzt ersparen. Denn wer, wenn nicht der Herr Tod, kann sagen, ob sich ein Ermordeter in seinen Gefilden herumtreibt.

      Auf dem Parkplatz im Hof hinter der Drogerie Rossmann befand sich außer seinem Corsa kein anderes Auto.

      Vlassi ging zu einem kleinen Baum und murmelte: „Herr Tod, hören Sie mich? Erinnern Sie sich an mich? Könnten Sie nicht mal kurz erscheinen? Ich hätte da eine Frage …“

      Nichts tat sich, schon gar nicht hörte Vlassi eine Antwort.

      „Es ist eine ganz simple Sache für Sie“, fuhr Vlassi fort, „die wird Sie nicht lange beanspruchen. Sie werden vermutlich unterfordert sein …“

      Vlassi lauschte, doch nicht der geringste Ton war zu hören.

      „Ach“, stöhnte Vlassi theatralisch auf, „und ich habe geglaubt, dass wir nach der letzten Zusammenarbeit ein Team wären. Ein erfolgreiches Team, das auch weiter zusammenarbeiten sollte …“

      Wieder nichts, wieder blieb es völlig still, sodass Vlassi schließlich ausrief: „Ach, auf Sie ist auch gar kein Verlass, wenn man Sie mal braucht, kommen Sie nicht, immer erscheinen Sie zur unrechten Zeit.“

      In dem Moment tauchte eine Frau im Hof auf, die offenbar seinen Ausruf gehört hatte. Sie blieb stehen, nickte ihm freundlich zu und sagte: „Ja, ja, in diesen Zeiten bleiben einem nur Selbstgespräche, nicht wahr?“

      Vlassi wusste, was sie meinte, sie dachte an Corona, aber das war doch schon nahezu passé. Er nickte ihr zu und war um eine Antwort nicht verlegen: „Ich überprüfe gerade, ob ich meinen Fragen gewachsen bin. Ich meine, ob ich die richtigen Antworten finde.“

      „Ach ja“, stöhnte die Frau, „man muss heute alles selber machen. Lassen Sie sich nicht weiter stören.“

      Sie fingerte in ihrer Handtasche nach einem Schlüssel und wandte sich der hinteren Haustür zu, die Kommissar Spyridakis erst jetzt bemerkte.

      *

      Eine gute Viertelstunde später fuhr Vlassi in den Mainzer Vorort Gonsenheim ein. Born hatte ihm die Adresse von Frederick Reinhardt gegeben, er musste in die Arndtstraße zur Nummer 36. Obwohl ohne Navi unterwegs, fand er die Straße schnell, ein Vlassi, ging es ihm durch den Kopf, mag tot und mitunter ohne Gedächtnis sein, aber ein Navi kann er entbehren.

      Er stellte sein Auto an den Straßenrand hinter einen Mercedes. Auf der Arndtstraße befand sich kein Mensch, nicht einmal die Frau mit dem wackeligen Einkaufswagen. Natürlich wusste Vlassi nicht, dass sein Mainzer Kollege Lustig vor Kurzem hier mit gespitzten Ohren entlanggegangen war und die entsprechende Dame nach verdächtigen Geräuschen befragt hatte. Natürlich wusste er auch nicht, dass die Dame nichts, aber auch gar nichts gehört hatte, da schwerhörig.

      Vlassi wollte lediglich erkunden, ob der Mann, den er umgebracht hatte, vielleicht doch noch lebte. Oder sich ein anderer in ihn verwandelt hatte, ein Verstellkünstler, wie er Born erklären musste. Für einen Schauspieler, überlegte Vlassi, als er sich dem Tor der Nummer 36 näherte, ist das schließlich eine einfache Übung. Schauspieler gieren nach Verwandlung, sie wollen sich verstellen, sie wollen König Lear sein oder Faust oder Heinrich der Vierte. Sie wollen eine andere Identität annehmen. Und warum?, überlegte Vlassi. Ihm fiel ein, dass der ehemals berühmte Wiener Schauspieler Josef Kainz auf die Frage, warum er nie den Faust spiele, geantwortet hat: den Faust kann nur ein bedeutender Mensch spielen, und ein bedeutender Mensch wird kein Schauspieler.

      Vlassi erschrak. Wollte er im letzten Fall nicht selbst Schauspieler werden? Fühlte er sich ganz unbedeutend, war er mit sich selbst und seinem Beruf nicht im Reinen, fehlte ihm etwas, mangelte es ihm an Selbstwertgefühl? Ich bin Vlassopolous Spyridakis, murmelte er, und will