Vera Nentwich

Tote Models nerven nur


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Zumindest nenne ich es so. Offiziell bin ich wohl nur eine gewöhnliche Steuerfachangestellte. Nicht gerade der abenteuerliche Job, den ich mir früher immer gewünscht hatte.

      Ich stellte den Kaffeebecher auf meinen Schreibtisch und schaute den Poststapel durch. Nichts, was einer dringenden Erledigung bedurfte. Nachdem mein Rechner hochgefahren war und sich orientiert hatte, meldete er eine Telefonnachricht. Ich hörte sie ab. Ein Mandant fragte, wann seine Steuererklärung fertig sein würde. »Morgen«, murmelte ich vor mich hin. Der musste sich noch gedulden. Ich hatte Wichtigeres zu tun.

      Ich öffnete das Verzeichnis mit den vom Handy synchronisierten Fotos und schaute mir die Ausbeute des Morgens an. Die meisten waren sehr verwackelt, aber ein oder zwei zeigten Judith mit einem herrlich wütenden Gesicht. Die waren ideal für meinen Blogartikel. Ich blieb beim Foto vom Spanier im Hemd hängen. Es malte sich deutlich seine gut konturierte Bauchmuskulatur ab und am Ausschnitt war das dunkle Brusthaar erkennbar. Ich muss jetzt noch nach Luft schnappen, wenn ich an dieses Bild denke. Sabine bist du etwa neidisch? Ich nenne mich immer mit meinem richtigen Namen, wenn ich mich selbst ermahnen will, aber alle nennen mich nur Biene, seit ich denken kann. Was fand dieser gutaussehende, reiche Kerl nur an der Zicke Judith? Okay, sie war ein bekanntes Model. Und wenn ich meinen jahrelang gehegten Hass gegen sie mal außer Acht lasse, muss ich zugeben, dass sie nicht schlecht aussah. Zumindest, als sie noch nicht als Leiche vor mir gelegen hat. Sie wirkte immer etwas künstlich, aber nicht unansehnlich. Ich bin dagegen eher natürlich. Sehr natürlich. Liegt vielleicht daran, dass ich mir aus Make-up und Aufhübschen nicht so viel mache. Zumeist laufe ich in meiner Jeans herum, wechsele gelegentlich das T-Shirt und das ist es.

      Natürlich hatte sich die Nachricht meines turbulenten Zusammentreffens mit Judith schnell im Ort verbreitet. Es dauerte nicht lange und mein Handy piepste. Eine neue WhatsApp-Nachricht wurde angekündigt. Es war Betty.

       »Was hast du mit Judith gemacht?«, stand da. Auch du, meine beste Freundin? »Gar nichts!«, schrieb ich ihr und ergänzte es mit einem möglichst böse dreinblickenden Smiley, um meinen Missmut über die Unterstellung zu verdeutlichen.

       »Es wird erzählt, du hättest sie K.O. geschlagen.«

       »Habe ich nicht!«

       »Dann ist es ja gut. Komm mal wieder vorbei.«

       »Mache ich.«

       Anscheinend hatten alle in Grefrath damit gerechnet, dass ich Judith etwas antun würde. Was werden sie erst denken, wenn sie die Leiche finden?

      Das Internet war ergiebig und spuckte einige Geschichten zu Judith und ihrem Verlobten aus. Der Blogartikel, den ich daraufhin schrieb, wurde ein Hit. Natürlich, mit dem Titel!

      

       Grefrather Starmodel wird zur Furie

      Das bekannte Model Judith Schöller beehrte heute überraschend ihren Heimatort Grefrath. Im Schlepptau hatte sie Jago Diaz Fernández, Sohn aus reichem argentinischen Hause. Angeblich, so schreibt die Regenbogenpresse, möchte sie ihren Verlobten den Eltern vorstellen. Doch von trautem Liebesglück kann erst einmal keine Rede sein. Denn zuerst lief Judith Schöller durch ihren beschaulichen Heimatort und präsentierte sich arrogant gegenüber ihren früheren Nachbarn und Freunden. Es kam sogar zu einer von ihr provozierten Schlägerei, in deren Verlauf das Model zu Boden ging und schließlich mit dem Krankenwagen ins nächstgelegene Krankenhaus musste. Auch ihr angeblicher Verlobter zeigte sein wahres Gesicht und griff die Berichterstatterin tätlich an. Da scheint sich ein besonderes Paar gefunden zu haben.

      Meine Fotos hatten den Artikel treffend ergänzt und so verbreitete er sich rasend schnell im Netz. Eine Tatsache, die mich jetzt in einem sehr schlechten Licht dastehen lässt.

      Ich frage mich, ob es wirklich Zufall war, dass dies alles ausgerechnet am zwanzigsten Todestag meiner Eltern stattgefunden hat. Oder war das ein Zeichen? Irgendein schräges Signal des Schicksals. Wenn ja, dann verstehe ich die Botschaft nicht. Vielleicht war es die Strafe dafür, dass ich beinahe vergessen hätte, zum Grab meiner Eltern zu fahren. Ich lebe bei meiner Oma, seit meine Eltern vor nun mehr zwanzig Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen sind. Oma hat mich damals aufgenommen, denn sie ist meine einzige Verwandte. Mein Vater war Vollwaise und meine Mutter ein Einzelkind. Opa ist auch kurz darauf gestorben und seit der Zeit haben wir nur uns. Eine Gänsehaut kriecht an mir hoch. Nicht, weil vor mir Judith leblos daliegt, sondern weil ich daran denke, dass ich fast das Datum vergessen hätte. Fünfter August 2014. Es ist jetzt noch, als ob ich einen Felsblock verschluckt hätte, der in meinem Magen hin und herrollt und sämtliche Eingeweide mit sich reißt. Ein Schmerz, der mich schreien lässt und nie aufzuhören scheint. Zuerst die Prügelei mit Judith und dann drohte ich, den Todestag meiner Eltern zu vergessen. Was für ein verdammter Tag. Als ich nach Hause gekommen war und mir bewusst wurde, was ich vergessen hatte, war ich hektisch zu Oma gerannt.

       »Oma, Oma, weißt du, welches Datum heute ist?« Oma sah mich fragend an.

       »Es ist ihr Todestag! Wie konnte ich das vergessen?«

       »Ach Kengk«, sagte meine Oma nur.

       »Ich muss zu ihnen«, schrie ich und rannte hinaus, schnappte mein Fahrrad und radelte los. Am Feldchen hinunter, durch die Rosenstraße und quer über den Markt. Die Menschen vor mir stoben auseinander. Einige schimpften oder zeigten mir den Finger. Das war mir egal. Ich hatte noch nie einen Todestag meiner Eltern vergessen und auch am zwanzigsten würde ich zu ihrem Grab fahren. Ich radelte, so schnell ich konnte, die Wankumer Straße hoch, bog beim Supermarkt ab und gab in der Schaphauser Straße nochmal richtig Gas. Hinter dem Beerdigungsinstitut ging es in den Seiteneingang zum Friedhof. Ich stieg vom Fahrrad und schob es den Rest des Weges, bis ich am Grab meiner Eltern stand.

      »Entschuldigt, dass ich so spät komme«, keuchte ich. Das Grab sah schön aus. Ich stellte mein Fahrrad ab und betrachtete den Grabstein aus braunem Marmor. Günther Hagen stand dort. Und Marion Hagen. Gestorben am 5. August 1994. Ich erinnere mich noch genau an diesen Tag. Es war ein Freitag. Meine Eltern wollten zum Kegeln, wie jeden ersten Freitag im Monat. Ich durfte dann bei Oma schlafen und freute mich schon darauf. Bei Oma schlafen bedeutete, so lange Fernsehen gucken, wie ich wollte und nur ungesunde Sachen essen. Ich liebte es. Dann kam der nächste Morgen. Als ich in die Küche kam, saß dort ein Polizist und Oma sah sehr verweint aus. Sie nahm mich gleich in den Arm und ich wusste, es musste etwas Schreckliches geschehen sein. Dann sagte sie, dass meine Eltern nicht mehr wiederkommen würden, weil sie einen Autounfall hatten. Meine Eltern und das Ehepaar Wolters waren dabei ums Leben gekommen.

      Bei dem Gedanken an meine Eltern laufen mir gleich die Tränen meine Wangen hinunter. Ich wische sie mit meinem Ärmel ab. »Ach Mama. Ach Papa.« Wie oft habe ich schon überlegt, was in meinem Leben anders gelaufen wäre, wenn ich meine Eltern nicht verloren hätte. Meine Oma ist wirklich toll und immer für mich da, aber so manches Mal habe ich mir einen Vater gewünscht.

      Mein Vater war mein Held. Sportlich. Er sah super aus. Meine Freundinnen waren immer total neidisch. Er war Ingenieur und arbeitete in Düsseldorf an wichtigen Projekten. Als dann im Dorf erzählt wurde, er hätte den Unfall verursacht, weil er betrunken gefahren sein sollte, brach eine Welt für mich zusammen. Das konnte nicht sein. Oma sagte immer, ich sollte nicht auf das Geschwätz der Leute hören. Vater würde nie betrunken Auto fahren. Aber die Leute hörten nicht auf, dies zu behaupten. Dann fing auch noch Judith damit an. Wir waren damals unzertrennlich. Beste Freundinnen. Aber als auch sie behauptete, mein Vater sei an allem schuld gewesen, war es damit vorbei.Ich muss kurz dem Reflex widerstehen, ihrem leblosen Körper einen Tritt zu verpassen. »Ach Papa, ach Mama, ich vermisse euch so.«

      Vielleicht sollte ich mich doch etwas mehr mit den aktuellen Problemen befassen. Schließlich stehe ich neben einer Leiche. Noch dazu der Leiche einer Person, bei der jeder davon ausgeht, dass ich sie umgebracht habe. Ich sollte also etwas tun. Nur was? Ich könnte Jochen anrufen. Er ist Polizist und weiß sicher, was zu tun ist. Schließlich sitze ich ja wegen ihm in diesem Schlamassel. Hätte er nicht von mir verlangt, mich bei Judith zu entschuldigen, wäre alles in bester Ordnung. Entschuldigen? Wegen ein paar Fotos bei Facebook und eines Blogartikels? So ein Kinkerlitzchen. Ich schreibe ja schließlich nicht für den Stern. Aber Betty hatte mich ja auch gewarnt.

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