Gruppe Mädchen. Als ich auf sie zuging, hörte ich es. »Bienes Vater soll ja betrunken gewesen sein«, sagte sie und die anderen Mädchen schauten mich betroffen an. Ich donnerte ihr eine Ohrfeige ins Gesicht, so fest ich nur konnte und rannte weg.
Es ist eigenartig, dass ich nun zwanzig Jahre danach am gleichen Ort stehe und auf Judiths Leiche sehe. Wenn Jochen wegen des Fotos auf Facebook nur nicht so auf mich eingeredet hätte, stünde ich nun nicht hier und müsste mir klar werden, was ich tun sollte. Dabei war er nur vorbeigekommen, um mir mal wieder zu helfen. So wie er es immer tut.
»Jochen ist da!«, rief Oma hoch. Jochen? Was wollte er denn? Nach einem langweiligen Tag in der Kanzlei hatte ich wirklich keine Lust auf Beziehungsgespräche oder besser Ex-Beziehungsgespräche. Ich schaute über das Treppengeländer.
»Was willst du?«
»Ich muss mit dir sprechen.«
»Schön, dass du uns mal wieder besuchen kommst«, flötete Oma dazwischen.
»Oma!«, versuchte ich, ihre Begeisterung über Jochens Besuch etwas zu zähmen. »Dann komm halt hoch.« Jochen trug zivil. Sein T-Shirt ließ den muskulösen Oberkörper erahnen. Seinen Körper habe ich immer geliebt. Wenn doch in ihm nicht so ein Beamtengeist wohnen würde! Vorsichtig kam er auf mich zu, als ob er Angst hätte, dass ich ihn gleich anfallen würde. Er war wohl gerade wieder beim Friseur gewesen. Seine Haare waren stoppelkurz, wie man es aus den amerikanischen Militärfilmen kennt. Kurz war ich versucht, ihm über den Kopf zu streichen. In meinem Wohnzimmer bot ich ihm einen Sitzplatz und ein alkoholfreies Bier an.
»Also, was ist los?«
»Hast du gestern ein Foto von Judith und ihrem Verlobten ins Internet gestellt?«
»Deswegen bist du hier? Ja, habe ich. Was geht dich das an?«
»Ach Biene.«
»Wenn jetzt noch einer ›Ach, Biene‹ sagt, kriege ich einen Schreikrampf. Was soll das? Ja, ich habe ein Foto von Judith und ihrem Spanier bei Facebook gepostet. Ja und? Soll die Welt doch sehen, welche Show sie abzieht.«
»Sie haben dich angezeigt.« Jochen sagte das sehr ruhig. Er ist ja immer ruhig. Ruhig und überlegt. Das kann einen ganz schön in Rage bringen. Ich lachte laut auf.
»Sie haben mich angezeigt? Warum denn das?«
»Verletzung der Persönlichkeitsrechte. Du darfst nicht einfach Fotos von Menschen im Internet veröffentlichen, wenn du keine Erlaubnis von ihnen hast.«
»Das ist doch lächerlich. Von denen gibt es Tausende Fotos im Web.«
»Das heißt nichts.«
»Und jetzt? Komme ich ins Gefängnis?« Das war doch ein Witz.
»Biene, das ist kein Kavaliersdelikt. Das ist eine Straftat und kann dir eine Menge Ärger einbringen.«
»Da siehst du mal, mit welcher Giftspritze ich es zu tun habe. Sie will mir doch nur das Leben zur Hölle machen! Wahrscheinlich kann sie sich Nobelanwälte leisten, die mich mit einem Klacks ins nächste Straflager verfrachten lassen können.« Ich hatte mich in Rage geredet.
»Straflager gibt es bei uns nicht.« Jochen blieb immer noch ruhig. Und er machte mich wahnsinnig.
»Verdammt nochmal, du könntest ruhig auf meiner Seite sein!«
Seine braunen Augen sahen mich an. Sie wirkten irgendwie traurig. Oder war das Mitleid? Ich brauche ganz bestimmt kein Mitleid. Er wollte etwas sagen. Ich wappnete mich schon gegen ein neuerliches »Ach Biene« und schaute mich um, was sich am besten dazu eignen würde, um es ihm an den Kopf zu schmeißen. Ich spürte, wie das Blut in meinen Kopf stieg. Bestimmt hatte ich eine ganz rote Birne. So wie die Comicfiguren, bei denen Feuer aus den Ohren kommt. Ich wollte gerade zerplatzen, da öffnete Jochen vorsichtig seinen Mund. Er sprach sehr leise. Fast bedächtig.
»Du weißt, dass ich dich mag und immer für dich da bin. Ich riskiere hier meinen Job für dich.«
»Wie das?« Das Suchen nach Wurfgeschossen musste warten.
»Ich habe nur durch Zufall von der Anzeige gegen dich erfahren, und wenn ich dir davon erzähle, bevor du es offiziell erfährst, kann ich die Ermittlungen gefährden.«
Wieder sahen mich seine braunen Augen traurig an. Verdammt. Mein Herz pocht jetzt noch, bei der Erinnerung daran. Er hat etwas Verbotenes getan. Ich weiß, wie schwer ihm das gefallen sein muss. Jochen ist die Korrektheit in Person. Er hat das für mich getan. Nur für mich. Seit ich denken kann, hat er mir immer zur Seite gestanden. Schon in der Schule hat er mich verteidigt, wann immer er es für nötig erachtete. Dabei habe ich ihn so manches Mal dafür noch beschimpft, weil ich doch viel lieber selbst gekämpft hätte und mir sicher war, dass ich mich auch hätte durchsetzen können.
Verdammt. Nun wollte ich ihm nichts mehr an den Kopf werfen, so zerknirscht und gleichzeitig besorgt, wie er da vor mir saß. Und süß und eigentlich auch sexy. Ich konnte nicht anders. Ich küsste ihn. Es fühlte sich gut an. Er war erschrocken und schob mich etwas von sich.
»Was soll das?«
»Ich wollte nur danke sagen.« Ich kuschelte mich an ihn. Tief atmete ich seinen Duft ein und genoss die Wärme seines Körpers. Mein Herzschlag beruhigte sich und das Blut, das sich gerade noch stauen und meinen Kopf platzen lassen wollte, verteilte sich nun wieder in meine Adern. Doch er drehte sich etwas von mir weg.
»Biene, lass das!«
»Was denn?« Ich rückte ihm nach, sodass ich meinen Kopf wieder auf seine Schulter legen konnte.
»Das.« Jochen drehte seinen Kopf zu mir.
»Ich werde mich doch wohl mal an die Schulter eines Freundes anlehnen dürfen?«
»Nicht, wenn du dem Freund damit wehtust.«
Erschrocken richtete ich mich auf.
»Tue ich dir weh, wenn ich mich bei dir anlehne?«
»Biene, manchmal kannst du echt ein Arsch sein.« Sein Blick war traurig.
»Ich will dir doch nicht wehtun«, protestierte ich leise.
»Du tust es aber.«
»Tut mir leid.« Beide starrten wir still auf mein Sideboard, unfähig ein Wort zu sagen. Nur das Atmen unterbrach die Stille. Es schien, als ob wir im Gleichklang atmeten. Ich beobachtete, wie sich seine Brust hob und senkte. Wir hatten einen Rhythmus, einen Takt. Er legte vorsichtig seinen Arm um mich. Irgendwann schloss ich die Augen.
III
»Der Jochen ist ein netter Kerl.« Natürlich war es Oma nicht entgangen, dass Jochen erst spät gegangen war.
»Ja, Oma.« Sie trug eine helle Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt auf dem »Ich schmeiß alles hin und werd Prinzessin« prangte.
»Seid ihr jetzt wieder zusammen?«
»Nein, Oma.« Tiefschürfende Gespräche am frühen Morgen hasse ich.
»Warum denn nicht?«
»Ach Oma.«
»Ich verstehe das nicht. Er ist verlässlich, hat einen guten Job und mag dich. Und sein Body ist auch toll.«
»Oma!«
»Eine junge Frau wie du. Ist doch eine Schande, dass du keinen Freund hast. Das ist ungesund, wenn man so lange keinen Sex hat. Also, ich sage dir, dein Opa und ich …«
»Oma, bitte!« Ich schnappte mir mein angebissenes Brötchen. Wenn Oma mit dem Sexthema anfing, dann half nur die Flucht.
»Du weißt, dass ich recht habe, Kengk. Du solltest dir wirklich den Jochen schnappen.«
»Ja, Oma, ich muss los.« Ich hetzte aus der Küche, nicht ohne noch ein »Ach Kengk« zu vernehmen.
Während ich mich an meinem Brötchen kauend auf den Weg in die Kanzlei machte, dachte ich über meinen Entschluss nach. Jochen hatte ja recht, ich musste sehen, dass ich die Situation mit Judith entspannte. Er hatte mir sehr drastisch geschildert, welche Schwierigkeiten sonst auf mich zukommen konnten. Ich würde also über meinen Schatten springen und mich bei Judith entschuldigen.