Vera Nentwich

Tote Models nerven nur


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Judith anrufen und um ein Gespräch bitten. Den ganzen Tag hatte ich mir immer wieder bestätigt, dass es das Richtige war. Schließlich bin ich eine erwachsene Frau von zweiunddreißig Jahren. Die kann sich weiterentwickeln und Frieden schließen. Noch einmal tief Luft holen und dann griff ich zum Hörer. Die Nummer der Schöllers hatte ich am Morgen schon rausgesucht und auf meiner Tischunterlage notiert. Nun tippte ich die Ziffern langsam ein. Der Rufton wirkte dumpfer als sonst.

      »Schöller.« Es war Judiths Mutter.

       »Hallo, Frau Schöller. Hier ist Sabine Hagen.«

       »Biene? Das ist aber eine Überraschung. Du möchtest sicher Judith sprechen, oder?« Frau Schöller habe ich immer gemocht. Von ihr gab es nie ein böses Wort. Wenn wir uns bei den Schöllers getroffen haben, gab es immer Kakao mit Sahne.

       »Ja, das wäre nett. Ist sie da?«

       »Nein, leider nicht, Biene. Aber du kannst sie sicher auf dem Handy erreichen.«

       »Die Nummer habe ich gar nicht. Können Sie sie mir geben?«

       »Aber natürlich. Moment mal …« Man konnte hören, wie sie nach etwas kramte. »Hier habe ich sie.« Sie las mir die Nummer vor, die ich ebenfalls auf meine Unterlage kritzelte.

       »Komm uns doch mal wieder besuchen, Biene. So wie früher.«

       »Vielleicht mache ich das demnächst, Frau Schöller.«

       Wir verabschiedeten uns und legten auf. Ob sie auch jetzt noch möchte, dass ich sie besuchen komme? Sie tut mir leid. Man wünscht keiner Mutter, dass sie den Tod ihres einzigen Kindes miterleben muss. Als ich Judiths Nummer wählte, ertönten erst ein paar Klingelzeichen und dann Judiths Stimme. »Ich kann leider Ihren Anruf nicht entgegennehmen. Bitte hinterlassen Sie eine Nachricht.« Der Piepston erklang und ich überlegte kurz, schnell aufzulegen. Nein, ich musste das durchziehen und brachte mich so in diese beschissene Situation.

       »Äh, hier ist Biene. Überrascht, was? Na ja, also, äh, ich meine, es ist irgendwie blöd gelaufen. Und jetzt dachte ich, also es wäre vielleicht gut, wenn, ich meine, also, es wäre gut, wenn wir uns vielleicht mal treffen würden. Sag mal Bescheid.«

      Ich starrte auf mein Handy. Ob sie sich melden würde? Entschlossen legte ich es auf den Schreibtisch. Ich hatte es auf jeden Fall versucht. Mir konnte keiner einen Vorwurf machen. Mit einer Handbewegung schob ich mein Smartphone zur Seite und schlug die Steuerakte vor mir auf.

      »Um sechs am Turm.« Das Display zeigte eine eingegangene SMS an. Es war Judiths Nummer. Ausgerechnet an den verrosteten Überresten des Aussichtsturms wollte sie sich treffen? Ich war ewig nicht mehr im alten Gartenschaugelände gewesen. Hätte es nicht ein Café sein können? Aber ich konnte nicht mehr zurück. »Ok«, tippte ich ins Handy und sendete es ab.

      Am frühen Abend waren keine spielenden Kinder mehr zu sehen, als ich mein Fahrrad am Hallenbad und an der Schule vorbeischob. Vor mir lag die große Wiese, auf der wir früher Fußball gespielt und so manche Pause verbracht hatten. Nun war niemand zu sehen. Nur ein Mann im blauen Kittel werkelte an einem Gitter. Ich grüßte ihn, ohne zu wissen, wer er war. Er grüßte zurück. Wie lange war ich hier schon nicht mehr gewesen? Ich versuchte mich zu erinnern, während ich die ruhig daliegende Wiese betrachtete und an den Überresten des Brunnens vorbeiging. In den Siebzigern hatte es hier mal eine Landesgartenschau gegeben. Das waren die Glanzzeiten von Grefrath gewesen. Das Eisstadion war gerade gebaut worden. Eine kleine Gemeinde am Niederrhein, die ein Eisstadion errichtete, war damals eine Sensation. Nur große Städte hatten so etwas. Gemeinden, die etwas auf sich hielten, bauten höchstens ein Schwimmbad. Später war dann sogar die 400m-Eisschnelllaufbahn dazugekommen und aus Grefrath wurde das Inzell des Nordens. Ich kann mir gut vorstellen, in welchem Glanz Grefrath zu Zeiten der Landesgartenschau gestrahlt haben musste. Der Aussichtsturm war damals das Wahrzeichen gewesen. Hoch oben prangt das Grefrather Wappen an zwei ausladenden Stahlträgern. Doch genau so, wie er damals den Glanz repräsentierte, so ist er heute ein Symbol des Niedergangs. Die Stahlträger sind längst verrostet, der Turm ist gesperrt. Die untere Treppe ist abmontiert, damit niemand mehr hinaufsteigen kann. Unser alter Treffpunkt. Warum hatte Judith ausgerechnet diesen Ort vorgeschlagen? Hier hatten wir früher die Abende verbracht. Judith, Betty und ich. Manchmal war auch Jochen dabei, wenn wir gerade mal wieder zusammen waren. Später kam dann Georg, Bettys heutiger Mann, dazu. Dann haben wir geraucht und gequatscht. Ich musste lachen, als ich auf den gegenüberliegenden Teich schaute. Wie oft sind wir übermütig auf die Steine gesprungen, die als Weg durch den Teich führten. Wir wussten, dass Einzelne davon locker Waren und bei der Landung unberechenbar wanken könnten. Jeder von uns war schon ins Wasser gefallen. Gerne wird der Teich auch als Kulisse für Hochzeitsfotos verwendet. Ob auch schon Hochzeitspaare von den wackeligen Steinen abgerutscht sind? Unweigerlich musste ich lächeln.

      Es war kurz nach sechs. Ich suchte den Platz ab, ob ich Judith entdecken konnte. Na ja, pünktlich war sie noch nie. Wahrscheinlich würde sie irgendwann mit wehenden Fahnen angerannt kommen und mir von unzähligen Katastrophen erzählen, die sie daran gehindert hatten, pünktlich zu sein. Mir kamen die Bilder von früher in den Sinn. Wir hatten damals immer gewettet, welche Geschichte uns Judith heute wohl auftischen würde. Aber ihr Ideenreichtum überraschte uns immer wieder.

      Die akademische Viertelstunde war vorbei. Jetzt konnte sie wirklich langsam kommen. Ich hatte keine Lust, in der Einöde stundenlang auszuharren, bis Madame sich erbarmte, hier aufzutauchen. Ich zog mein Handy aus der Tasche.

       »Wo bleibst du?«, tippte ich ein und betätigte die grüne Senden-Schaltfläche. Ich hörte ein Piepsen. Diesen typischen iPhone-Klingelton, den jeder kennt. Ich habe aber kein iPhone. Wo kam der Ton her? Erschrocken sah ich mich um. Niemand zu entdecken. Der Ton kam von da vorne. Aus Richtung des Teiches, meinte ich. Ich klickte noch einmal auf Senden und hörte genau hin. Wieder erklang der Ton und nun wusste ich die Richtung. Dort vom Teich, wo das Schilf wächst. Ich ging unsicher auf die Stelle zu und hielt die Luft an. Dort zwischen dem Schilf leuchtete etwas Rot. Es waren die leuchtend roten Sohlen von Edel-High-Heels. Ich kannte nur eine Person, die solche Schuhe tragen könnte. Ich rannte und hatte auch gleich das Gefühl, mein Herz würde aussetzen. Judiths Körper lag bäuchlings im Teich. »Judith«, rief ich. Vorsichtig beugte ich mich zu ihr und rüttelte am leblosen Körper. Ich musste mit meinen Armen in den Teich, um ihren Kopf aus dem Wasser zu ziehen. »Judith, um Gottes willen.«

      Doch sie antwortet nicht. Ihre Augen sind weit aufgerissen und sehen durch mich durch.

      IV

      »Oh Gott, was haben Sie getan!«

       Ich weiß nicht, wie lange ich schon hier gestanden habe. Erschrocken drehe ich mich um. Eine ältere Frau starrt mich an und kramt hastig nach ihrem Handy. Ihr Rehpinscher zerrt laut kläffend an seiner Leine.

       »Kommen Sie mir nicht zu nahe!« Die Frau ist nahezu hysterisch. Mit zitternden Fingern tippt sie auf ihrem Handy, während ich die kläffende Miniausgabe eines Hundes zu umgehen versuche. Das Wasser tropft von meinen nassen Ärmeln auf den Boden vor mir. Ja, einen Krankenwagen brauchen wir.

       »Sagen Sie ihnen, sie atmet nicht mehr«, empfehle ich der Frau. »Oh Gott«, antwortet diese nur, während sie das Handy ans Ohr presst.

       »Kommen Sie schnell«, höre ich sie sagen. »Hier liegt eine Frau tot im Teich und die Mörderin ist noch da.«

       Hey, was sagt sie da? Nein, das ist ein Irrtum.

       »Moment mal«, versuche ich zu intervenieren und mache einen Schritt auf sie zu.

       »Bleiben Sie weg von mir!« Ihre Stimme ist schrill und der Hund bellt so laut, dass man befürchten muss, er bekommt gleich einen Herzinfarkt. »Ja, kommen Sie schnell«, kreischt sie ins Telefon.

       »Die Polizei kommt gleich. Sie wird sie kriegen.«

       Hat diese olle Tusse sie noch alle? Aber ich muss zugeben, der Eindruck ist nachvollziehbar. Ich habe mich über Judith gebeugt und die liegt da leblos im Teich. Man könnte daraus den Schluss ziehen, ich hätte sie ermordet. Er ist sogar recht naheliegend. Mist, das ist nicht gut. Aber die Polizei wird das schon verstehen, wenn ich ihnen den Sachverhalt schildere. Wird sie? Je mehr ich mir selbst die Tatsachen vor Augen führe, desto unsicherer werde ich. Vielleicht wird sie es auch nicht. Plötzlich