Hüte hervor.
»Na, eine neue Kopfbedeckung denke ich nicht.«
»Autsch, so böse.« Sie grinste frech.
»Was ist mit einem Schal? Ich glaube, so etwas würde auch meiner Mutter gefallen.«
»Gute Idee … Mensch, schau dir doch mal dieses süße Top an.« Paisley griff nach einem Bügel mit einem Top, dessen Print Cinderella samt Glasschuh zeigte. Es war wirklich hübsch und erinnerte mich an meinen Besuch in Disneyland vor einem Jahr.
»Das sieht echt schön aus. Aber sind das nicht nur Kindergrößen?«
Paisley kniff die Augen zusammen und fingerte nach dem Etikett.
»Hey, hübsche Weihnachtselfe«, sagte da plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir und ließ mich erschrocken zusammenfahren. Ich hatte nicht bemerkt, dass sich uns jemand genähert hatte. Eine Hand legte sich sanft auf meinen Oberarm. Wollte der mich etwa ausrauben? Entführen kam mir in einem solch belebten Geschäft unrealistisch vor, aber man wusste ja nie. Ein eiskalter Schauer lief mir den Nacken herunter. Nicht einmal das knapp bemessene Kleid hatte das geschafft. Ruckartig drehte ich mich um und rechnete mit dem Schlimmsten. Doch stattdessen blickte ich in mir bekannte nussbraune Augen, die mich wie so oft in ihren Bann zogen. Sie wurden halb von einer braunen, strubbeligen Surferfrisur verdeckt. Sie gehörten einem Jungen, der direkt vor mir stand. Er war einen halben Kopf größer als ich und trug einen schwarzen Kapuzenpulli sowie locker sitzende Jeans.
»Kevin?«
»Mia?«
Überrascht blinzelte ich und starrte in das nun ebenso verblüfft aussehende Gesicht. So viel zu Taschendieb! Vor mir stand kein anderer als Kevin O’Neill, Drummer von »4 United Tones«, der Band meines Bruders. Und nicht nur das. Kevin war einer der begehrtesten Jungs unserer Schule. Was nicht nur an seinen hammermäßigen Beats lag. Er war trainiert, gutaussehend, süß und einfühlsam. Unzählige Mädchen himmelten ihn an. Die Jungs von 4 United Tones hatten mittlerweile schon regelrechten Star-Status in unserer Kleinstadt und Umgebung erlangt und stellten eine harte Konkurrenz zu unseren Footballspielern an der High School dar, was den Beliebtheitsfaktor bei Mädchen anging. Das gefiel den Spielern sowie sämtlichen Jungs an unserer Schule zwar nicht, aber kein Mädchen konnte dem Charme der vier Bandmitglieder widerstehen. Auch wenn die meisten in ihrer Anwesenheit Gelassenheit und Belanglosigkeit vortäuschten. Jede von ihnen hoffte inständig, eines Tages von einem der 4 United Tones-Boys bemerkt und als Freundin auserkoren zu werden. Sehr zu meinem Leidwesen. Denn seit die 4 United Tones bekannter geworden waren, hatten auch schon unzählige Mädchen versucht meine neue beste Freundin zu werden. Nur, um dadurch näher an Kevin, Mike, Blake oder Jonah heranzukommen. Denn als kleine Schwester von Jonah Smith, dem Frontsänger und Gründer der Band, hatte ich natürlich die Möglichkeit, jederzeit mit ihnen abzuhängen. Allein diese Tatsache heimste mir regelmäßig neidische Blicke im Schulflur ein, was mich ziemlich nervte. Gut, es stimmte: Kevin, Blake, Mike und Jonah waren bereits seit dem Kindergarten die besten Freunde und somit war ich praktisch mit ihnen allen aufgewachsen. Selbst für meine Eltern waren sie mittlerweile mehr Familienmitglieder als nur Freunde meines Bruders. Das hieß aber nicht, dass Paisley und ich in unserer Freizeit ständig etwas mit den Jungs unternahmen, so wie das manch eine meiner Mitschülerinnen glaubte. Und einen solch »berühmten« Bruder zu haben, konnte auch ganz schön anstrengend sein. Besonders wenn Jonah wieder einmal ein etwas zu großes Ego an den Tag legte und mir damit tierisch auf die Nerven ging.
Verwundert riss Paisley die Augen auf, als sie den Jungen vor mir ebenfalls erkannte. »Kevin? Hast du dich verirrt?«
Sein überraschter Gesichtsausdruck verwandelte sich in Verwirrung. »Nein, wieso?«
»Nun ja.« Meine beste Freundin wedelte mit dem Disney-Top vor seiner Nase herum und deutete dann durch das Geschäft. »Wenn ich mich nicht total täusche, stehst du hier gerade in einer Damenboutique.«
Sein Blick wirkte einen Moment lang verständnislos. Dann nahmen seine Wangen eine kaum merkliche Rotfärbung an, als er diese Tatsache ebenfalls zu bemerken schien. Seine Augen zuckten unruhig von Paisley zu mir. Binnen einer Sekunde hatte er sich jedoch wieder gefangen. »Du hast eine gute Auffassungsgabe, Sherlock.« Er zwinkerte Paisley zu. Sie kicherte amüsiert, biss sich kaum merklich auf die Unterlippe und senkte kurz ihren Blick. Ich glaubte meinen Augen nicht zu trauen. Flirtete sie da etwa gerade? »Um ehrlich zu sein, suche ich nach einem Geschenk für meine Schwester.«
»Tiara?«, fragte ich, ohne weiter darüber nachzudenken und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Natürlich Tiara, dachte ich. Schließlich hatte er ja nur eine Schwester. Tiara war sechs Jahre alt und ein wahrer Engel. Ich liebte es, auf sie aufzupassen, wenn Kevin gerade mit der Band probte und Mr. und Mrs. O’Neill keine Zeit hatten. Obwohl Tiara manchmal ein paar sehr verrückte Flausen im Kopf hatte, war sie für ihr junges Alter schon erstaunlich erwachsen und clever. Unsere gemeinsamen Nachmittage versprachen jedes Mal das reinste Abenteuer zu werden.
»Jap.« Auf Kevins Gesicht trat ein Grinsen. »Hey Mia, du kommst doch am Donnerstag wieder zu uns. Tiara freut sich schon riesig darauf. Sie spricht seit einer Woche von nichts anderem mehr. Vermutlich wird sie dir all ihre Weihnachtsgeschenke zeigen und verlangen, dass ihr sie der Reihe nach durchspielt.«
Bejahend nickte ich und konnte mir ebenfalls ein Schmunzeln nicht verkneifen. Die Tatsache, dass Tiara meinen Besuch kaum erwarten konnte, freute mich jedoch mächtig.
»Aber ich muss dich vorwarnen.« Kevin beugte sich ein Stück zu mir vor und flüsterte geheimnisvoll. »Mum will ihr ein Prinzessinnenkosmetikset schenken.«
»Oh«, war meine einzige Antwort. Tiara hatte ein ausgereiftes Faible für Mode und Styling und liebte alles, was auch nur im Entferntesten dieser Thematik angehörte. Dabei hatte sie einen recht guten Geschmack, wenn doch hin und wieder etwas ausgefallen. Ich konnte mir bereits bildlich ausmalen, dass der Donnerstag definitiv einige sehr bunte Stunden versprach.
Kevin schwieg einen Moment und musterte mich ausgiebig in meinem Elfenkostüm. Unbehaglich wand ich mich unter seinem Blick. Für einen Moment hatte ich das Minikleid ganz vergessen.
»Die Kinderklamotten sind übrigens da drüben.« Paisley wies auf die hinterste Ecke des Ladens. Kevin blinzelte und schaute irritiert in die gezeigte Richtung. Dankbar nickte ich meiner besten Freundin zu, die ganz offensichtlich mein Unwohlsein bemerkt hatte.
»Tja, dann will ich wohl mal.« Etwas zögerlich trat Kevin einen Schritt nach vorne. Mittlerweile hatte sich eine kleine Traube an Mädchen in etwa anderthalb Metern Entfernung um uns herum angesammelt und blickte aufgeregt tuschelnd und kichernd zu uns hinüber. Als Kevin keine Anstalten machte, loszulaufen, gab Paisley ihm einen ermunternden Klaps auf die Schulter und schob ihn vorwärts.
Ein plötzliches »Klatsch«-Geräusch erklang, als dabei etwas Kartenähnliches vor meinen Füßen landete. Sofort fasste sich Kevin in die hintere Hosentasche, fingerte suchend nach etwas und bückte sich schnell zu den auf dem Boden liegenden Zetteln hinunter. Doch da war ich bereits in der Hocke und warf einen Blick auf drei bunte, laminierte DIN-A6-Karten. Eine davon war grün, eine gelb und die dritte rot. Sie erinnerten mich an meine Lernkarteikarten aus der Schule, mit denen ich für einen Vokabeltest oder eine Klausur übte. Nur, dass sich auf diesen hier keine Vokabeln befanden, sondern eine Reihe von Stichpunkten aufgelistet war. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich, dass es sich um eine Art To-do-Liste handelte, bei der bereits drei Punkte auf der grünen Karte mit einem Häkchen versehen waren. Mein Blick wanderte über die verschiedenen Karten:
• schmücke den Weihnachtsbaum des Einkaufszentrums mit eigenem Schmuck
• fische eine Münze aus dem Wunschbrunnen
»Moment, was …?« Was sollte das denn bitte schön für eine To-do-Liste sein?
Plötzlich umschlossen Finger die Karten und versuchten sie meinem Griff zu entziehen. Der Stärke nach zu urteilen, musste es Kevin sein. Da hatte er allerdings die Rechnung ohne Paisley gemacht. Diese entriss ihm in Windeseile die Listen. Mit immer größer werdenden Augen überflog sie die Karten und wich dabei geschickt Kevins Versuchen aus, ihr die Karteikarten abzunehmen.