Ich dachte, sowas gibt es nur im Fernsehen von irgendwelchen verrückten Promis.« Kevin schaffte es nun endlich, die Karten an sich zu nehmen und beeilte sich, sie wieder in die hintere Hosentasche zu stecken. Paisley allerdings schien die meisten Stichpunkte darauf gelesen und förmlich auswendig gelernt zu haben. »Du hast dir einen Frozen Yoghurt bis zum Gehirnfrost reingeschaufelt?«
Ich konnte nicht sagen, welches Gesicht bei dieser Aussage wahnsinniger aussah. Paisley, die vor Erstaunen, Entsetzen und tiefem Respekt fast zu atmen vergaß oder Kevin, dessen Gesichtszüge im Sekundentakt von Verlegenheit über Wut und Lachen bis hin zu Panik wechselten und er dabei einem unentschlossenen Chamäleon glich. Schließlich endete sein Mienenspiel bei Entsetzen. Sein Kopf zuckte zu mir, so als ob er sich erst jetzt wieder meiner Anwesenheit bewusst wurde. »Ich muss los«, erklang ein undeutliches Nuscheln und er machte ruckartig auf dem Absatz kehrt. Sein Fluchtversuch scheiterte jedoch erneut an Paisley.
»Moment mal!« Sie schien nun richtig in Fahrt zu kommen. Blitzschnell, wie ein Raubtier griff sie nach seinem Arm und zerrte ihn zurück zu dem Cinderella-Kleiderständer. »Wahnsinn, das ist der Hammer!« Meine beste Freundin fasste an Kevins Po (HALLO?!) und holte die drei Karten aus seiner Hosentasche hervor. Begeistert studierte sie diese ausführlicher.
Dieses Mal wehrte sich Kevin nicht, vermied es aber tunlichst, eine von uns beiden direkt anzusehen. Stattdessen starrte er auf das Cinderella-Top, das nun wieder an der Kleiderstange hing.
»Wenn ich das richtig verstehe, sind alle Aufgaben auf der grünen Karte leicht, Gelb bedeutet mittlere Herausforderung und Rot schwer. Bestimmt erhält man dementsprechend unterschiedlich viele Punkte. Moment. … Ah, hier oben steht es ja. Für eine grüne Aufgabe erhält man 25 Punkte, für eine gelbe 50 und eine erfolgreich absolvierte rote Challenge bringt satte 100 Punkte ein.« Langsam dämmerte es mir. Die drei laminierten Karteikarten gehörten also zu einem Spiel oder genauer gesagt, zu einer Art Schnitzeljagd. Dabei gaben die verschiedenfarbigen Karten unterschiedlich schwere Aufgaben vor, bei deren Erfüllung der Spieler sich eine entsprechende Punktzahl gutschreiben durfte. Eigene Christbaumkugeln an den Weihnachtsbaum im Einkaufszentrum zu hängen und Münzen aus dem Wunschbrunnen zu stehlen waren also leicht zu lösende Aufgaben, für die der Spieler jeweils 25 Punkte erhielt. Innerhalb eines festgelegten Zeitraums musste man so viele Aufgaben wie möglich erfüllen. Eine bestimmte Reihenfolge gab es nicht. Jeder Spieler konnte selbst wählen, welche und wie viele der Aufgaben er lösen wollte. Wer am Ende die meisten Punkte hatte, gewann.
»Aber wenn das eine Scavenger Hunt ist, dann benötigt man mehrere Spieler. Also, wer sind deine Mitstreiter?« Paisley blickte neugierig von den Karten auf.
Kevins Antwort beschränkte sich auf ein Schweigen. Aber er brauchte auch nichts zu sagen. Denn plötzlich fiel der Groschen bei mir. Es gab keine Zweifel. Kevins beste Freunde waren die anderen Bandmitglieder. Natürlich kannte er noch viele andere Leute. Doch nur mit den Jungs von 4 United Tones würde er eine solche Aktion durchziehen. Die Scavenger Hunt klang wie ein typischer Vorschlag von Blake, dem E-Bassspieler. Er war mit seinen neunzehn Jahren der älteste der Gruppe und zugleich der Draufgänger in der Band. Er besaß eine große Vorliebe für jegliche Form von Unsinn, den er selbst gerne als Erwachsenenspaß betitelte. Für ihn war das Leben eine einmalige Sache, die man stets auskosten sollte. Mike, der achtzehnjährige Keyboarder, und Kevin galten dabei eher als die Vernünftigen und Ruhigen der Band. Doch wenn Blake und Jonah etwas vorschlugen, dann gaben sie am Ende meistens nach und das resultierte dann in eben solchen verrückten Aktionen wie dieser Scavenger Hunt. Also hätte es mich eigentlich nicht allzu sehr verwundern dürfen, dass nun Kevin als Teilnehmer einer solchen Schnitzeljagd vor uns auftauchte.
»Oh nein! Du spielst das mit Jonah, Mike und Blake.«
Kevins intensiver, schweigsamer Blick ruhte auf mir und verriet alles, was ich wissen musste.
»Das heißt also, dass mein Bruder auch hier im Einkaufszentrum ist!« Entsetzt schnappte ich nach Luft. Kevin nickte ertappt. Automatisch zerrte ich mein Minikleid tiefer Richtung Knie. Wenn mich Jonah in diesem komischen Fummel sah, würde er mich monatelang damit aufziehen und vor versammelter Mannschaft blamieren. Im Prinzip war Jonah echt okay und ich wünschte mir keinen anderen großen Bruder als ihn. Aber geschwisterliche Rivalitäten blieben auch bei uns nicht aus und genau dann konnte so eine Situation echt peinlich und unangenehm werden. Der morgendliche Streit um das Badezimmer, der von Wettrennen aus dem Bett bis hin zu Frisur zerstörerischen Fönduellen reichte, war da nur ein harmloses Beispiel. Ich erinnerte mich nur allzu gut daran, wie ich vor drei Jahren von einem echt süßen Jungen aus der Parallelklasse zu einem Eis essen eingeladen worden war. Das war mein erstes und leider bisher letztes Date gewesen. Denn kaum hatten wir beide das Eiscafé betreten, war auch schon Jonah mit Blake, Mike und Kevin dort aufgetaucht und hatte mich am laufenden Band vor meinem Date blamiert. Angefangen bei peinlichen Kindheitserinnerungen, die er in aller Ausführlichkeit lachend herumposaunte, bis hin zu irgendwelchen erfundenen Eisunverträglichkeiten meinerseits. Seit diesem Tag ignorierte mich der Junge aus der Parallelklasse komplett und Jonahs Geschichten hatten in der gesamten Schule die Runde gemacht. Nein, ich musste definitiv mit allen Mitteln verhindern, dass Jonah mich in diesem freizügigen Kostüm entdeckte. Denn dass er sich eine solche Vorlage für neuen Spott und Sticheleien nicht entgehen lassen würde, lag ja wohl auf der Hand. Wer weiß vielleicht schoss er sogar gleich noch ein paar Beweisfotos und schickte sie als Weihnachtsgrußkarten an alle Verwandten und Bekannten, damit sie den Spaß teilen konnten!
Kevin bemerkte meine hektischen Versuche, den Stoff verlängern zu wollen und zog verwundert die Augenbrauen nach oben. Ich schaute ihn kurz vielsagend an und er schien meine Sorgen endlich zu begreifen. Immerhin kannte er meinen Bruder genauso gut wie ich. »Beruhige dich, Mia. Wenn ich mich nicht täusche, ist er gerade mit der Rolltreppe in den 3. Stock gefahren. Vermutlich um lautstark ein Lied im Elektronikgeschäft in der Musikabteilung mit Testkopfhörern zu trällern.« Ich hielt in meiner verkrampften Haltung inne.
Paisley suchte auf den drei Karteikarten nach der genannten Challenge. »Wieso ist das auf der gelben Karte? Ihr seid eine Band. Das sollte wohl eher unter ›kinderleicht‹ oder ›Aufwärmübung‹ fallen.«
»Nicht jeder von uns ist ein geborener Frontsänger und hat null Hemmungen mit dieser Challenge. Mike und ich wollten dafür mindestens 50 Punkte.«
»Und wie ich hier sehe, hast du dich noch nicht getraut. Das macht 50 Punkte Vorsprung für ihn.« Kevin schien darüber wenig begeistert. Seine Augen verengten sich verärgert zu kleinen Schlitzen und sein Kiefer spannte sich leicht an.
Paisley bekam das allerdings nicht mit. Sie war viel zu vertieft in die Liste. »Was gibt es denn zu gewinnen?«
Nach einem kurzen, unschlüssigen Zögern, schien Kevin zu entscheiden, dass er nun auch ganz mit der Sprache rausrücken konnte. »Der Gewinner darf das Cover unseres neuen Albums aussuchen.«
Ich erinnerte mich daran, dass Jonah neulich Abend schlecht gelaunt gewesen war, weil das neue Album von 4 United Tones in wenigen Wochen veröffentlicht werden sollte, sich die Band aber nicht auf ein Coverdesign einigen konnte. Jeder hatte eine andere Meinung, welcher der Vorschläge es wert war, sie zu repräsentieren. Dieses Wissen ließ meine Vermutung von eben noch einmal überdenken. »Lass mich raten. Das war die Idee von Jonah. Nur er kommt auf solch schwachsinnige Lösungsvorschläge.« Bevor Kevin überhaupt antworten konnte, wusste ich, dass ich richtig lag. Solche Aktionen waren mir aus eigener Erfahrung nur allzu bekannt.
Paisley lachte laut auf. »Stimmt ja, so wie ihr beide früher als Kinder einen Wettbewerb ausgetragen habt, wer es schafft, über den eingefrorenen Weiher in eurer Nachbarschaft zu laufen. Der Gewinner sollte den letzten Rest eurer fantastischen Heilig Abend-Eisbombe bekommen.« Ernsthaft? Musste Paisley ausgerechnet jetzt mit dieser mehr als peinlichen Story anfangen, die ich seit Jahren versuchte zu verdrängen? Durchbohrend starrte ich meine beste Freundin an, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch Paisley ließ sich nicht mehr bremsen. Ihr Lachen wurde noch eine Nuance lauter und auch Kevin fiel jetzt mit ein.
»Ich erinnere mich. Du bist eingebrochen und als Jonah dich rausziehen wollte, seid ihr beide reingefallen. Ihr lagt eine Woche lang krank im Bett.«
Genervt stieß ich beide ein Stück von mir weg.