ich in leicht geduckter Haltung Richtung Rolltreppe und zwängte mich dort zwischen eine fünfköpfige Familie, um optimalen Sichtschutz zu bekommen. Obwohl ich wusste, dass es keinen großen Sinn machte, sich in der Menge nach den Jungs umzuschauen, wanderte mein Blick unaufhörlich umher. Mein Bauch grummelte nervös und die Angst, jeden Moment entdeckt zu werden, jagte mir einen Schauer über den Rücken.
Kaum hatte ich die Damenboutique im Erdgeschoss betreten, fühlte ich mich zum ersten Mal wieder etwas sicherer. Wie ich erleichtert feststellte, befand sich im Laden nur eine Handvoll Frauen. Somit also schon mal nicht Blake, Mike oder Jonah. In möglichst gemäßigtem Tempo steuerte ich auf die Ecke mit den bunten Schals und Tüchern zu. Ich wollte auf keinen Fall unnötig Aufmerksamkeit erregen, indem ich halb durch den Laden rannte, nur um endlich aus der Schusslinie zu kommen. Meine Beine fühlten sich jedoch merkwürdig steif an und ich hatte den Eindruck, mehr zu watscheln als wirklich zu laufen. Als ich schließlich das rettende Regal mit den Schals erreicht hatte, atmete ich tief durch. Hier war ich im Sichtschutz unzähliger Ständer, Regale und Schaufensterpuppen und zudem noch in der hintersten Ecke des Geschäfts. Dieser Standort versprach die optimale Möglichkeit, das Treiben um mich herum im Auge zu behalten und dabei selbst unerkannt zu bleiben. Nach einem letzten prüfenden Blick erlaubte ich mir, meine Konzentration auf die Auslage mit Schals und Tüchern zu richten. Die Frage war, welche Farbe passte am besten zu den braunen Haaren und den grünen Augen meiner Mutter? Ich durchwühlte die große Kiste mit Tüchern und Rundschals, um ein geeignetes Exemplar zu finden. Am Ende befanden sich ein blauer Seidenschal und ein grünes, gemustertes Tuch in der engeren Auswahl.
»Pst.« Für eine Sekunde hielt ich reglos inne. Hatte da nicht gerade jemand etwas geflüstert? Ich lauschte einen Moment. Doch da war nichts. »Psssst!« Ich drehte mich überrascht zur Seite. Das Geräusch schien von hinter mir zu kommen. Aber da stand niemand. Hatte ich mich etwa gerade verhört? Meine Aufmerksamkeit wanderte wieder zu den Schals in der Kiste, als erneut ein »Pst!« ertönte. Dieses Mal war es deutlicher zu vernehmen. Ich drehte mich suchend einmal um die eigene Achse. Weit und breit war niemand zu sehen. »Pst, Mia.« Da war es schon wieder. Und es kannte meinen Namen. Mein Herz begann automatisch schneller zu schlagen. Dann entdeckte ich plötzlich zwischen zwei großen Kleiderständern voller Dessous einen braunen Haarschopf. Nein, das konnte nicht sein …
»Mia, du musst mir helfen.« Geduckt winkte Kevin mich wild gestikulierend zu sich hinüber.
Etwas verunsichert machte ich mich mit dem blauen Schal für meine Mutter auf den Weg zu ihm. Skeptisch beäugte ich dabei den restlichen Laden. Versteckten sich hier etwa noch mehr Leute?
Kaum hatte ich die Dessous-Ständer erreicht, zerrte mich Kevins kräftige Hand nach unten. Ich war so überrascht, dass ein leises Quieken meiner Kehle entwich.
»Aua, sag mal, geht’s noch? Hast du etwa einen Griff aus Stahl?«
»Entschuldige. Sind wohl die Drummermuskeln.« Er schmunzelte. Erst jetzt entdeckte ich in Kevins Hand einen roten Spitzen-BH. Verblüfft starrte ich darauf und spürte, wie mich diese Situation unweigerlich etwas verlegen machte. Was machte er mit Unterwäsche aus der Frauenabteilung? Und noch dazu mit so einem Teil? Er bemerkte meinen schockierten Blick und schien mit sich zu ringen, das Kleidungsstück entweder vor mir zu verstecken oder offen darüber zu sprechen. Ich hätte Variante A bevorzugt, doch wie ich meinen Tag heute kannte, musste es natürlich auf B hinauslaufen.
»Dieser BH …« Und da war es auch schon. »Also, ich … bräuchte dringend deine Hilfe.«
»Auf keinen Fall werde ich dir helfen, dieses Teil anzuziehen.« Seine Augen nahmen einen verständnislosen Blick an. Mir schwante Böses. »Oh nein. Vergiss es. ICH werde das gewiss nicht anziehen!«
»Das verlange ich doch auch gar nicht. Obwohl das bestimmt nice an dir aussähe.« Er zwinkerte mir verschmitzt zu.
»Kevin!«
»Was denn?«
»Ich habe rote Haare. Damit beißt sich in der Regel jedes rote Kleidungsstück, egal wie klein bemessen es ist.« Am liebsten hätte ich mir den Mund zugehalten. Warum konnte ich nicht einfach schweigen und das Thema fallen lassen? Nein, natürlich musste ich, wie immer wenn ich nervös war, unablässig wie ein Wasserfall plaudern.
»Paisley könnte das schon eher tragen. Aber diese Spitze. Brrrrrr.« Unauffällig kniff ich mir in den Arm. Es tat höllisch weh, half aber, mich zum Schweigen zu bringen.
»Schon gut. Eigentlich sollte ich keine Witze machen, die dich aus der Fassung bringen.« Super, er hatte es also auch bemerkt. »Schließlich will ich ja etwas von dir.«
»WAS?!« Das klang jetzt irgendwie zweideutig.
»Äh, ich meine, ich brauche deine Hilfe.« Kevin fuhr sich durchs Haar. Ganz offensichtlich machte ihn dieses Gespräch ebenfalls nervös, obwohl er versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Oder lag es an der Situation, dass wir zusammen hinter einem Unterwäscheständer versteckt in der Frauenabteilung kauerten und das nur von unserem Gespräch über einen der wohl anzüglichsten BHs, die ich je gesehen hatte, getoppt wurde?
»Hör zu. Ich versuche gerade eine der gelben Aufgaben zu lösen. Ich habe schon ein paar grüne erledigt. Aber die bringen nur 25 Punkte. Wenn ich das Cover aussuchen will, dann muss ich mich etwas mehr anstrengen. Die anderen werden bestimmt nicht vor ein paar gelben oder roten Challenges haltmachen.« Ganz besonders nicht mein Bruder, dachte ich. Jonah schreckte nie vor einem Spaß zurück. Er war zwar absolut gut erzogen und würde nie etwas Unüberlegtes, Unmoralisches oder Illegales tun. Aber alles darüber hinaus hatte noch nie ein Problem für ihn dargestellt. Ich vermutete sogar, dass entweder er oder Blake die Scavenger Hunt gewannen.
»Und was hat dieses Ding mit deiner gelben Challenge zu tun?«
»Ich muss etwas aus der Frauenabteilung kaufen. Aber keinen Pulli, Shirt oder Hose. Sondern Dessous.«
»Schön. Dann kauf den BH doch einfach. Wo ist das Problem?« Ich verstand immer noch nicht, wozu Kevin meine Hilfe benötigte. »Falls du dir Geld leihen willst, tut mir leid. Ich brauche das noch für meine Weihnachtsgeschenke.«
»Mia, ich würde dich nie um Geld bitten.« Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte ich einen verletzten Gesichtsausdruck bei ihm auszumachen. Doch bevor ich genauer hinsehen konnte, lag wieder der alte, intensive, durchdringende Blick in seinen Augen. Sofort verfluchte ich mich für meine unüberlegte Aussage und wandte etwas beschämt den Kopf zur Seite. Denn es war wirklich lächerlich, zu glauben, dass Kevin mich nach Geld fragte. Seine Familie war reich. Sein Vater besaß eine renommierte Plattenfirma, bei der auch die Band meines Bruders seit einem halben Jahr unter Vertrag war. Kevins Mutter unterstützte mit ihrer eigenen Stiftung das örtliche Kinderkrankenhaus und genoss auch sonst, als sehr engagierte Frau in der Gemeinde, ein hohes Ansehen in unserer Stadt. Trotzdem waren die O’Neills kein bisschen eingebildet oder überheblich. Ganz im Gegenteil. Unsere Eltern kannten sich schon sehr lange, was vor allem von der engen Freundschaft zwischen Kevin und Jonah herrührte. Jeden Sommer luden uns die O’Neills immer wieder zum BBQ ein.
»Wo liegt dann das Problem?«, beeilte ich mich weiterzusprechen. »Wenn du die Kasse suchst, die ist gleich hier links um die Ecke.« Ich deutete mit dem Finger in die entsprechende Richtung. »Da kannst du den BH in Windeseile bezahlen und verschwinden.«
»Ich würde ja zur Kasse gehen. Aber direkt daneben steht meine Mum.«
Oje. Jetzt verstand ich sein Dilemma. Welcher Junge wollte schon von seiner Mutter beim Dessous-Shoppen gesehen werden und noch dazu mit so einem Teil. »Soll ich sie ablenken?«
»Ich dachte eher an kaufen.«
»Was?!« Bevor ich auch nur blinzeln konnte, hatte mich Kevin bereits auf die Füße gezogen, mir drei Zwanziger in die Hand gedrückt und in Richtung Kasse gestoßen. Ich stolperte, verlor fast den Schal, auf dem ich beinahe noch ausrutschte und kam direkt vor der Kasse zum Stehen. Die Verkäuferin musterte mich, streckte die Hand aus und wartete ungeduldig, dass ich ihr die Ware zum Scannen hinüberreichte. Mein Blick wanderte fassungslos von dem Spitzen-BH zu Kevin, der wieder hinter dem Regal abgetaucht war und so tat, als ob er sich den Schuh neu band. Auffordernd