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Handbuch des Verwaltungsrechts


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      Querschnittsthemen und Reformschübe

      Die hierdurch ausgelöste Kette der Veränderungen für Verwaltung und Verwaltungsrecht reißt nicht ab.[8] Im Gegenteil treten seit der Jahrtausendwende die digitale Revolution und die mit ihr verbundenen Hoffnungen der Verwaltungsvereinfachung und -verbesserung durch Digitalisierung[9] als weitere Veränderungsfaktoren hinzu.[10] Hinzu kommen auch immer weitere nationale, europäische und globale Herausforderungen für Politik, Verwaltung und Gesellschaft, für die bisher keine trag- und konsensfähigen Lösungen gefunden wurden. Zu nennen wären (abgesehen von der „Corona-Krise“)[11] ohne Anspruch auf Vollständigkeit und in „freier“ Reihenfolge die zunehmende Bedrohung des Bestands der Europäischen Union, Währungs-, Finanz– und Staatsschuldenkrisen, die weltweiten Veränderungen der natürlichen Lebensgrundlagen durch den Klimawandel und den Verlust an Biodiversität, der demografische Wandel, zunehmende Migrationswellen wegen unzureichender Bekämpfung der Migrationsursachen, zunehmende Auswirkungen der Versäumnisse bei der Unterhaltung und dem Ausbau von Infrastrukturen und im Wohnungsbau, internationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität und ganz generell die auch in Deutschland immer tiefer werdenden Spaltungen in der Gesellschaft, die Ideologisierung des politischen Diskurses und seine Vergiftung durch eine zunehmende Empörungskultur, Fake News, Verschwörungstheorien, Populismus, Nationalismus und Hass. In den letzten 30 Jahren scheint es daher keine (symbolischen oder wirklichen) zeitlichen „Zäsuren“ mehr zu geben, dafür aber immer mehr Querschnittstrends, die teilweise gegenläufig, teilweise miteinander verflochten sind und sich wechselseitig verstärken. Sie führen zu wellenartigen Reformschüben und zu einer stetigen Veränderung der Staatsaufgaben und der Art und Weise ihrer Erfüllung. Dabei scheint die Gesetzgebung seit den 1990er Jahren weniger an beständigen, nachhaltigen Lösungen orientiert als daran, die Grundlagen dafür zu schaffen, dass (vielfach in Koalitionsverträgen) definierte Politik- und Reformziele innerhalb der jeweiligen Legislaturperiode erreicht werden oder jedenfalls bestimmte Reformen in Gang gesetzt werden können. Vergleichbare Veränderungen wären vermutlich auch ohne die Mitgliedschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Europäischen Union (und ihrer Rechtsvorgänger) eingetreten, sie haben aber durch die sich aus dieser Mitgliedschaft ergebende Verpflichtung zur Verwirklichung des Unionsrechts (Art. 4 Abs. 3 EUV)[12] und die Einbindung der deutschen Verwaltung in den Europäischen Verwaltungsverbund[13] eine besondere Gestalt bekommen.[14]

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      Verwaltungsrechtliches Erbe der „Bonner Republik“

      Es ist jedoch bereits gezeigt worden, dass trotz aller Veränderungen des Regelungsumfelds die Weichen, die das Grundgesetz für die Entwicklung des (west-)deutschen Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft gestellt hat, bis heute ebenso fortwirken bzw. erst in jüngerer Zeit (teilweise) überwunden werden. Dies betrifft insbesondere die Rechtsschutz- und Verwaltungsgerichtszentriertheit der Verwaltungsrechtswissenschaft[15] und ihre Fokussierung auf Subordinationsverhältnisse unter vielfacher Ausblendung privatrechtlichen und „schlichthoheitlichen“ Verwaltungshandelns,[16] die nur begrenzte Integration des Staatshaftungsrechts in das verwaltungsrechtliche Denken,[17] die Teilausblendung des Steuerrechts, des Sozialrechts, des Rechts der Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes und der Bereiche des Verwaltungshandelns, die in den Zuständigkeitsbereich der ordentlichen Gerichte fallen,[18] und schließlich die Unitarisierung des Landesrechts durch bundesgerichtliche Rechtsprechung.[19] Auch die prägende Kraft der in der „Bonner Republik“ geschaffenen Gesetzeswerke und Kodifikationen zum allgemeinen Verwaltungsrecht (VwGO und VwVfG) und zu den „klassischen Referenzgebieten“ des besonderen Verwaltungsrechts (Polizei- und Ordnungsrecht, Kommunalrecht, Baurecht, Umweltrecht, Gewerberecht, Beamtenrecht, Straßenrecht) wirkt bis heute fort.[20] Tatsächlich zeigt sich zunehmend, dass auch das „verwaltungsrechtliche“ Erbe der „Bonner Republik“ (1949–1990) bei weitem nicht ausgeforscht ist, sondern viele Fragen noch immer offen sind.[21]

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      Leistungsfähigkeit der Verwaltungsrechtswissenschaft

      Dennoch ist es seit den 1990er Jahren zu einer erheblichen Ausweitung der von der Verwaltungsrechtswissenschaft bearbeitenten Themen gekommen; die Kanalisierung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die geschilderten grundgesetzlichen Vorgaben aber auch durch die Themen der VwGO und des VwVfG ist immer weniger wirksam: Die Kanäle laufen über. Dies warf die Frage der Leistungsfähigkeit der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft und ihrer Methoden in der Diskussion über die „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“[22] und der hierauf aufbauenden Diskussion über die Rolle der Dogmatik (auch) in der Verwaltungsrechtswissenschaft[23] auf. Hinzu tritt eine Diskussion über die Relevanz der Verwaltungsrechtswissenschaft für die Verwaltungspraxis.[24] Diese Grundsatzdiskussionen haben jedenfalls dazu geführt, dass sich viele (jüngere) Rechtswissenschaftler (wieder) vermehrt dem Verwaltungsrecht widmen, sodass immer mehr Verwaltungsrechtsgebiete rechtswissenschaftlich erschlossen werden. Zudem leistet die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft mittlerweile (auch) wesentliche Beiträge zum „Europäischen Verwaltungsrecht“[25] und öffnet sich insoweit den zunehmenden unionsweiten wissenschaftlichen Diskursen, speist hierin aber auch ihre besonderen Leistungen ein.[26]

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      Ende der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ der DDR

      Das Verwaltungsrecht des wiedervereinigten Deutschlands ist eine Fortschreibung des unter dem Grundgesetz vom 23.5.1949 entwickelten westdeutschen Verwaltungsrechts. Daher blieben im vorigen Kapitel die Entwicklungen in der sowjetischen Besatzungszone ebenso ausgeblendet wie die spätere (Verwaltungs-)Rechtsentwicklung der DDR.[27] Diese Entwicklungen sind heute nur noch von historischem Interesse und werden daher auch hier nicht behandelt:[28] Das DDR-Verwaltungsrecht hatte nichts mit dem Verwaltungsrecht der Bundesrepublik gemein, hat sich insbesondere auch nicht als Fortführung einer deutschen Vorkriegstradition verstanden, sondern beruhte wie das gesamte Recht der DDR auf dem Konzept der „sozialistischen Gesetzlichkeit“.[29] Mit dem Ende der DDR endete ihr Verwaltungsrecht. Soweit nach Art. 9 EVetr DDR-Verwaltungsrecht fortgalt, handelte es sich um die Fortgeltung „nackter“ Normtexte, die nicht im Sinne der DDR-Rechtsanwendungsroutinen, sondern im Lichte westdeutscher Rechtsanwendungsroutinen anzuwenden waren.[30] Der Geltungsbereich des westdeutschen Verwaltungsrechts und der hierzu gehörenden Rechtsanwendungsroutinen ist durch den Einigungsvertrag vom 3.10.1990 letztlich auf das Gebiet der ehemaligen DDR erstreckt und so das Verwaltungsrecht der DDR endgültig „abgeschafft“ worden.[31] Eine umfassende „DDR-Abwicklungsgesetzgebung“ versuchte die Grundlage für eine nicht nur rechtliche, sondern auch eine wirtschaftliche und soziale Wiedervereinigung zu schaffen.[32]

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      Rechtsangleichung oder Rechtsanpassung?

      Die von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung der DDR gewünschte schnelle Übernahme westdeutscher Lebensverhältnisse, die die Übernahme der in der Bundesrepublik vor dem 3.10.1990 entwickelten Rechtskultur einschloss, ließ eine teilweise gewünschte[34] behutsame Rechtsangleichung nicht zu, auch wenn die Überschrift des Kapitels III des Einigungsvertrags dies suggerierte. Es galt, die bewusste Abkopplung von den bürgerlich-rechtsstaatlichen Vorstellungen, die mit besonderer Gründlichkeit in der DDR vorgenommen worden war,[35] rückgängig zu machen. Art. 4 des Vertrages über die Schaffung einer Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR (Staatsvertrag) vom 18.5.1990 bezeichnete diesen Vorgang daher zutreffend als „Rechtsanpassung“. Tatsächlich hatte das Konzept dieses Staatsvertrages noch einen abgestuften Vereinheitlichungsprozess vorgesehen, wenn auch auf Grundlage der in Art. 2 des Staatsvertrags genannten zentralen Prinzipien der grundgesetzlichen Ordnung. Entsprechend wäre eine Rechtsanpassung des einfachen Rechts durchzuführen gewesen, aber innerhalb dieses Rahmens noch mit weitem Spielraum, der die Berücksichtigung eigenständiger Leistungen der Bevölkerung der DDR nach der Wende (auch in Bezug auf die Schaffung verwaltungsrechtlicher Grundlagen)[36] sowie etwaiger Errungenschaften