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Handbuch des Verwaltungsrechts


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nicht mehr aufzuhaltende wirtschaftliche Zusammenbruch zwang die DDR jedoch, das Versprechen in der Präambel des Staatsvertrags vom 18.5.1990, nach Art. 23 GG a. F. „in Freiheit die Einheit Deutschlands in einer europäischen Friedensordnung alsbald zu vollenden“, sofort einzulösen. Die Grundlage bildete der Einigungsvertrag vom 31.8.1990, der in seinem Art. 8 die Konsequenz aus der Entscheidung für den Weg der Wiedervereinigung über Art. 23 GG a. F. zog, nämlich die grundsätzliche Übernahme des Rechts und damit auch des bestehenden formellen und materiellen Verwaltungsrechts der Bundesrepublik Deutschland.[38] Diese rechtliche Folge war von dem Willen der breiten Mehrheit der Bevölkerung der DDR getragen; zugleich wurde sie von der Kraft der tatsächlichen Verhältnisse erzwungen: Zeit für die Erarbeitung einer eigenständigen Rechtsordnung blieb nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Herrschaftssystems nicht mehr, zumal sich nach dem Umbruch die trotz hektischer Gesetzgebung[39] faktisch bestehenden rechtsleeren Räume zuungunsten der Bürger und der wohlverstandenen Allgemeininteressen vergrößerten; sie mussten in einer hochindustrialisierten Gesellschaft so schnell wie möglich ausgefüllt werden.[40] Nur dadurch konnte versucht werden, für den Einzelnen den Schutz eines Rechtsstaates gegenüber nur von persönlichen und wirtschaftlichen Beweggründen diktierten Eigeninteressen aufzubauen.

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      Herausforderungen im praktischen Vollzug

      Die vollständige Übernahme des ausgebauten westdeutschen Verwaltungsrechtssystems stellte die Behörden und Einrichtungen im Gebiet der früheren DDR vor erhebliche Herausforderungen. Vor allem fehlte in den neuen Ländern ein entsprechend ausgebildeter Beamtenstamm im Bereich des gehobenen Dienstes.[41] Nahezu alle Behörden und Einrichtungen mussten neu aufgebaut und die für eine moderne Büroorganisation fehlenden sächlichen Voraussetzungen geschaffen werden. Massive Verwaltungshilfe aus den alten Ländern, wie sie Art. 15 Abs. 2 EVertr. vorsah und auf allen Ebenen vollzogen (und 1994 eingestellt) wurde,[42] war einerseits unverzichtbar, brachte andererseits aber auch Probleme persönlicher Zusammenarbeit zwischen Menschen mit ganz unterschiedlichem Erfahrungshintergrund und rechtlichen Vorverständnissen mit sich.[43] Im Unterschied zu dem Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen in den westlichen Besatzungszonen nach 1945, der für die betroffenen Deutschen prinzipiell gleich war,[44] führte die Übernahme westdeutschen Rechts in den neuen Ländern dazu, dass das von der DDR übernommene Personal sich nach vierzig Jahren weitgehenden Abbaus rechtlicher und insbesondere verwaltungsrechtlicher Denkweise sofort mit einem hochkomplizierten Normengefüge nach den westlichen Auslegungs- und Anwendungsmethoden unter Beachtung geschriebener und ungeschriebener Verfassungsgrundsätze auseinandersetzen musste. Eine kaum zu überblickende Fülle bisher unbekannter materieller Rechtsvorschriften war zu beachten und in einer Weise umzusetzen, die die Grundrechte des Bürgers respektiert und sich an dem Rechtsstaats- und Gewaltenteilungsprinzip des Grundgesetzes orientiert.[45] Dies alles war zu leisten, obwohl die Ausbildung der Juristen und der Angehörigen des öffentlichen Dienstes der DDR hierfür wenig Hilfe anbot. Umsetzungsschwierigkeiten beruhten vor allem auf einem divergierenden Verständnis von der Funktion des Rechts und den Aufgaben der einzelnen Staatsgewalten, dem unterschiedlichen Verständnis von der Eigenverantwortung eines Bediensteten auch in einer hierarchisch gegliederten Behörde, dem unterschiedlichen Verständnis von der Rechtsstellung des Bürgers in einem Staat, insbesondere von der Bedeutung der Grundrechte und der subjektiv-öffentlichen Rechte, und auch der fehlenden Unterrichtung und Übung in juristischen Methoden der Gesetzesanwendung und Gesetzesauslegung in der DDR-Ausbildung.[46] Umgekehrt bot der „westliche Hintergrund“ vieler zur Verwaltungshilfe abgeordneter Juristen kaum Gewähr, die Lebensumstände in der DDR und die dortige Rechtswirklichkeit zutreffend einordnen zu können. Auch das Verwaltungsrecht der DDR und das der alten Bundesrepublik trennte nichts mehr als die gemeinsame Sprache.[47]

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      Fiktion der Vergleichbarkeit zweier Rechtssysteme

      Das Problem des Einigungsvertrages war es, diese Unterschiede zusammenzuführen und dabei eine Vergleichbarkeit der Rechtsroutinen und Verwaltungskulturen in Ost und West zu fingieren. Die politische Notwendigkeit dieser Fiktion[48] verlagerte die Umgestaltung in den täglichen Vollzug. Sie beseitigte nicht die Gefahr, zu schnell von den westdeutschen Begriffsinhalten und ihren Rechtswirkungen auszugehen und sie auf durch das Rechtssystem der DDR gestaltete Lebenssachverhalte zu übertragen. Angesichts des Übergewichts westdeutschen Personals in der Aufbauphase blieb in der Praxis eine einseitige westdeutsche Sicht nicht aus.[49]

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      Privatisierungs-, Rückerstattungs-, Entschädigungs- und Rehabilitierungsrecht

      Die Erstreckung des westdeutschen Verwaltungsrechts auf das Gebiet der ehemaligen DDR setzte zugleich ein umfassendes „DDR-Abwicklungsrecht“ voraus. Dieses Übergangsrecht ermöglichte die „Abwicklung“ der DDR-Planwirtschaft durch Privatisierung der ehemals volkseigenen Betriebe, die Vermögensrestitution[50] und die Rehabilitierung nach Maßgabe der Rehabilitierungsgesetze des 2. SED-Unrechtsbereinigungsgesetzes vom 23.6.1994.[51]. Diese Regelungen waren politisch (natürlich) hoch umstritten, rechtlich hoch komplex und zudem ständigen Änderungen unterworfen. Anwendungs- und Akzeptanzprobleme waren nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass diese Gesetzgebung ausschließlich Begrifflichkeiten mit westdeutschen Bedeutungsgehalten verwendete, die oft kaum zu den DDR-Realitäten passten.[52] Dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung kann dieser Übergangsprozess, der die politische Wahrnehmung vom „Gelingen“ der Wiedervereinigung erheblich (und unterschiedlich) geprägt hat, als abgeschlossen gelten. Die spätere Entwicklung des nun gesamtdeutschen Verwaltungsrechts wurde hiervon jedoch kaum beeinflusst. Überlegungen, etwa die Privatisierungsverfahren der Treuhand als Verwaltungsverfahren zu begreifen und Verfahrensrechte von Bietern und Alteigentümern (nicht aber der veräußerten Unternehmen) zu konstruieren,[53] wurden von der Rechtsprechung sehr schnell zu Gunsten einer rein privatrechtlichen Sichtweise verworfen.[54] Dies hat wohl bis heute die Anerkennung eines wirklichen Privatisierungsverfahrensrecht verhindert.[55]

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      Stasi-Unterlagen-Gesetz und Informationsfreiheitsgedanke

      Für die weitere Verwaltungsrechtsentwicklung im wiedervereinigten Deutschland von Bedeutung war jedoch das Stasi-Unterlagen-Gesetz vom 20.12.1991.[56] Es hat freien Zugang der Betroffenen zu den sie betreffenden Akten auch unabhängig von einem konkreten Verwaltungsverfahren letztlich in einem genuin „deutschen“ Sachzusammenhang denkbar gemacht und begründete insoweit durchaus auch einen Paradigmenwechsel für die vom Grundsatz der geheimen Verwaltung geprägte westdeutsche Tradition: Transparenz wurde hier als Instrument zur Aufarbeitung von Staatsunrecht und damit auch als Ausdruck demokratischer Verantwortlichkeit der Staatsgewalt vor dem Volk und als Reaktion auf die Geheimhaltungs- und Verdeckungspolitik der DDR-Diktatur verstanden.[57] Die Erfahrungen mit der DDR-Diktatur waren es u. a. auch, die dazu führten, dass die Verfassung des Landes Brandenburg vom 20.8.1992 als erste deutsche Verfassung in Art. 22 Abs. 4 ein voraussetzungsloses Akteneinsichtsrecht als „Recht auf politische Mitgestaltung“ garantierte,[58] weshalb in Brandenburg mit dem Akteneinsichts- und Informationszugangsgesetz (AIG) vom 10.3.1998[59] auch das erste allgemeine Informationsfreiheitsgesetz geschaffen wurde.[60] Die weitere Diskussion über die Einführung der Informationsfreiheit in Deutschland[61] war allerdings eher von rechtsvergleichenden und europäischen Impulsen geprägt.[62]

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      „Projektgesetzgebung“ statt Kodifikation“

      Es ist bereits gesagt worden, dass die Verwaltungsrechtsentwicklung seit den 1990er Jahren von „projektartigen“ Gesetzesvorhaben geprägt ist, die sich eher in Artikelgesetzen niederschlagen.[63] Sie haben dennoch teilweise erhebliche, nicht immer vorhergesehene Veränderungen für die deutsche Verwaltungskultur mit sich gebracht. Im Folgenden sollen einige dieser Trends nachgezeichnet werden. Vorab ist festzuhalten,