viel Neues. Man trank Kaffee, alle griffen wacker zu, es mundete prächtig. Aber plötzlich hielt der Jule im Kauen inne. Man sah es ihm an, wie ihn der Schreck erfaßte. Seine Augen gingen ängstlich nach rechts und links, suchten in den Baumkronen, schweiften besorgt hinüber zur Ruine, so daß Pommerle aufmerksam wurde.
»Gehen wir – – gehen wir durch den Höllengrund zurück?«
»Jawohl, Jule.«
»Heute?«
»Natürlich, Jule.«
Der Knabe schwieg; er hätte Frau Bender gern gewarnt, doch wagte er es nicht. Zu oft schon hatte man ihn ausgelacht, wenn er davon sprach, daß jeder Dreizehnte im Monat ein Unglückstag sei. Und heute war doch der dreizehnte Juli, der Tag, an dem Rübezahl vor wenigen Jahren einem Wanderburschen erschienen war und ihn in eine Wurzel verzaubert hatte. Der Jule wußte es genau, daß der Rübezahl an jedem Dreizehnten durch seine Berge streifte und die Leute foppte.
»Ich finde den anderen Weg besser und bequemer. Was haben wir denn im Höllengrund? Der Rudolf kann auch nicht so gut klettern.«
Aber es nützte dem Jule nichts, es war beschlossen, durch den Höllengrund zu gehen. So mußte er sich fügen.
Selbstverständlich wurde der Turm der Ruine bestiegen, um den Breslauer Kindern den Ausblick über ihr Heimatgebirge zu geben. In stummem Staunen standen sie da. Etwas Neues, niemals Geahntes umfaßte ihr Blick.
»Seht, wie schön eure Heimat ist! Behaltet sie allezeit lieb, tragt sie im Herzen, kränkt sie nicht, indem ihr euch ihrer unwert zeigt.«
Jule war auf dem Turm recht lebhaft geworden. Er, der von klein an im Riesengebirge umhergewandert war, kannte die Namen der Berge genau. Die drei Breslauer Kinder hatten für seine Erklärungen wenig Interesse, doch Pommerle konnte nicht genug hören. Schließlich mußte Frau Bender an den Aufbruch mahnen, denn die Wanderung durch das Höllental erforderte noch einige Zeit. Frau Bender hatte auf dem Kynast Bekannte getroffen, die sich beim Abstieg durchs Höllental ihnen anschlossen. Jule blieb als letzter zurück. Aber nicht zu weit. Er hatte nun einmal ein unbehagliches Gefühl, er bildete sich ein, Rübezahl habe ein Auge auf ihn geworfen.
Pommerle gesellte sich bald zu ihm.
»Jule, warum bist du denn heute so ängstlich? Hast du was verbockt?«
»Nun ja, – ich habe die Meisterin beschwindelt. Nu ist doch heute der dreizehnte. Ich hätte lieber nicht schwindeln sollen.«
»Was haste denn getan?«
»Der Meister hat mir die Stullen fürs Abendbrot eingepackt, und dann kam die Meisterin und fragte, ob ich schon Abendbrot hätte. Da habe ich gesagt, sie soll mir das Abendbrot einpacken. Nu hab' ich es doch doppelt. Wenn ich halt immer so großen Hunger habe –«
»Na, Julchen, das ist doch nicht so schlimm. Da gibst du eben dem Rudolf was ab, dann beruhigt sich dein schlechtes Gewissen. Ich habe der Ida und der Karoline auch ein Kleid gegeben. Weißt du, ich hab' nämlich neulich mein gutes blaues Kleid zerrissen, – leider weiß es die Mutti noch nicht. Aber wenn ich viel wohltue und mit leuchtendem Beispiel vorangehe, wie damals beim Bürgermeister, wird die Mutti nicht ärgerlich sein. – Jule, wir wollen zusammen tüchtig Kleider für die armen Leute sammeln. Vor einigen Tagen sagte das Reich, es will alle alten Kleider haben. Einen Wagen schickt es durch Hirschberg. Doch zuerst holen wir die alten Kleider zusammen. Und wenn wir zuviel haben, geben wir es dem Reich ab.«
»Haste nicht was gehört, Pommerle? Es hat dort drüben so komisch geknackt.«
Pommerle lachte übermütig. »Ätsch, Jule, das macht nur, weil du doppeltes Abendbrot mitgenommen hast. Wenn das der Rübezahl wüßte, holte er dir das Abendessen weg!«
»Schrei doch nicht so laut!«
Doch in dem kleinen Mädchen lebte heute eine übermütige Freude. »Rübezahl!« rief es mit heller Stimme. »Der Jule hat seinen Meister beschwindelt!«
»Bist du still!«
»Ach, Julchen, hab' nur keine Angst, der Rübezahl ist doch nur ein Geist, nur so ein Stück aus einer Sage. Er kann gar nicht kommen und dich ängstigen, auch wenn ich noch so sehr schreie. – Rübezahl! – Rübezahl, ich möchte dich mal sehen!«
»Wer ruft mich?«
Aus dem Dickicht der Bäume trat ein junger Mann. Ein grünes Hütchen, geschmückt mit einer Feder, saß auf einem fröhlich lachenden Gesicht, in dem ein kleines Schnurrbärtchen sproßte.
Pommerle klammerte sich mit beiden Händen an Jule, der wie ein Taschenmesser zusammenknickte. Der junge Mann sah freilich dem Rübezahl gar nicht ähnlich, und Pommerle wurde schon wieder kritisch.
»Du bist ja nicht der Rübezahl«, sagte es mutig. »Nicht wahr, Jule, der Rübezahl sieht anders aus.«
Jule war fast grau geworden vor Angst. Er wußte, daß sich der mächtige Berggeist den Menschen in den verschiedensten Gestalten zeigte. Nicht immer kam er in seinem langen, grünen Mantel und dem großen Schlapphut, o nein, bald hatte er die Gestalt eines alten Weibleins, dann wieder die eines jungen Wunderburschen, eines Jägers oder eines Ritters. Heute zeigte er sich als ein schlichter Tourist.
»Was hat der Jule getan? – Jule, Jule, kennst du mich nicht?« Rübezahl erhob drohend den Stock.
»Ich – – ich – – will's nicht wieder tun! – Ich will – – dem Rudolf mein Abendbrot geben oder – – ich bringe es dem Meister zurück – – hab' Erbarmen, Rübezahl!«
»Bist du wirklich der Rübezahl?« fragte Pommerle mit verhaltener Stimme. Noch immer klammerte es sich an Jule. Warum war man so weit zurückgeblieben? Die anderen stiegen rasch bergab. Fortlaufen durfte man nicht, denn der Rübezahl hatte lange Beine. Außerdem konnte er auf seinem Mantel fliegen.
»Ich hab's gehört, wie du deinen Meister beschwindelt hast, Jule. Ich höre alles!«
»Ich will's nicht wieder tun«, stammelte der Jule. Dann zog er die beiden Pakete mit Brot aus der Tasche und hielt sie dem Rübezahl hin. »Wenn du sie haben willst, für hungrige Kinder – ich geb' sie dir.«
»Oh, die kann ich gut brauchen«, sagte der Rübezahl mit frohem Lachen, »die nehme ich gerne. Ich habe auch entsetzlichen Hunger, und Geld ist knapp.«
»Rübezahl, – du mächtiger Berggeist, der du thronst auf der Schneekoppe, tu' mir nichts! Ich muß morgen wieder an der Hobelbank stehen. Wir haben noch die Möbel für den Doktor Lenz fertigzumachen. Er wartet schon darauf.«
Der Berggeist beugte sich nieder, hob ein Steinchen auf und reichte es dem Jule. »Das kannst du mitnehmen zur Erinnerung an den mächtigen Rübezahl, der dir verbietet, den Meister zu beschwindeln. Tust du das noch einmal, dann fliegt dir dieser Stein an die Nase. Wo du auch bist! Und wenn du ihn fortwirfst, er kommt immer wieder zu dir zurück. Schließlich bleibt er an deiner Nase hängen. – So, nun weißt du es. Aber zur Strafe für dein Schwindeln behalte ich dein Abendbrot.«
Der Berggeist steckte die beiden großen Schnittenpakete zu sich, dann wandte er sich an Pommerle.
»Nun, und du, Kleine? Bist du immer brav?«
»Nicht immer, verehrter Herr Berggeist, aber – kannst du wirklich hexen?«
»Freilich kann ich das.«
»Kannst du dich verzaubern?«
»Natürlich.«
»Ach, lieber Berggeist, dann verhexe dich doch mal in ein kleines weißes Mäuschen. Ich möchte so gerne ein weißes Mäuschen sehen. Ich habe mal eines gesehen, das war so niedlich!«
»Nein, der mächtige Berggeist hat anderes zu tun, er muß hinauf zum Kynast.«
»Lieber Berggeist, der Jule sagt, du kannst aus Steinen Gold machen, du hast in deinen Bergen mehr als tausend Mark liegen. Die Ida ist doch so arm, die Mutter muß den ganzen Tag in der Fabrik sein. Und noch viele andere Kinder sind arm. Könntest du mir nicht 'ne Handvoll Goldstücke schenken?«