Eckhard Weise

Reisen der Sehnenden


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kann, denn der Multimilliardär verstarb einsam und allein, und zweitens, wie es denn angehen kann, dass dieser Widersinn innerhalb der siebten Kunst einst und womöglich bis heute – fast - niemandem aufgefallen ist.)

      Genial, aber viel zu naiv hatte Orson Welles 1941 ein heiliges Gesetz in seinem Land gebrochen: über Geld und – zumindest nicht geschützt genug – über Sex zu reden.

      Zwischen Weimar und uns liegt Buchenwald.

      Schwerst erkrankt verlangte mir nach einem Buch, das zu lesen ich in Zeiten des Wohlergehens scheute.

      Triftige Gründe für die eine wie die andere Gestimmtheit sind mir unerfindlich geblieben.

      Im Konzentrationslager Buchenwald, dort, wo es unter zerstörter Humanität allenfalls kleinste Regungen von Mitmenschlichkeit geben konnte, durfte – auf Seiten der Täter ohnehin schwerlich, auf Seiten der Opfer nicht selbstverständlich.

      Und doch wird eines Tages ein kleines jüdisches Kind hineingeschmuggelt, um es vor der Vergasung zu bewahren.

      Meine Erkrankung hinderte mich daran, mehr als zwei, drei Seiten am Tage zu lesen.

      Oder war es doch die Schilderung der Grausamkeiten, die diese Hinderlichkeit verursachte, und nicht die Erkrankung?

      Nach einer Woche dieser Art der Lektüre im Trippelschritt ein Wunder.

      Mit einer Taschenlampe unterm Bettlaken las ich das Buch – zumeist ungestört von Mitpatienten und Nachtschwestern – zügig bis zum befreienden Ende, für den Leser, mehr aber noch für das Kind und die meisten seiner Retter: der Junge hatte also Auschwitz und zuletzt eben auch Buchenwald überlebt.

      Die Ärzte*innen untersuchten mich immer wieder, prüften und verglichen die Befunde.

      Sie schüttelten die Köpfe und konnten sich meine überraschende Genesung nicht erklären.

      Wie sollten sie denn auch!

      Hatte sich mein Leiden durch Nacherleben von und Einfühlung in unermesslich größeres Leid und einer finalen Befreiung davon womöglich wenn nicht auf wundersame, so doch heilvolle aristotelische Weise relativiert?

       Preziosen mit Prognosen

      Auf einer Insel gibt es das Café „Crêperti Tati“, das offenbar bestbesuchte weit und breit.

      Am Eingang prangt ein Schild mit der Aufschrift „Elvis“ - anscheinend passend zu den Rhythmen von drinnen.

      Davor parkt ein blau-rot-rostfarbener Cadillac, fahruntüchtig seit langem, soviel ist sicher.

      Dieses ins Auge stechende Empfangsensemble wird weitläufig eingekreist von einer Vielzahl an Oldtimern: Volvos, Mercedes, Peugeots, VW, und last but not least steht da doch ein alter Linienbus.

      Hatten wir den nicht zuletzt im Kino gesehen, in Hitchcocks Politthriller „Der zerrissene Vorhang“ (Torn curtain), und zwar in der Kulisse einer Fahrt von Leipzig nach Berlin? Unter den Passagieren versuchten ein amerikanischer Physikprofessor und seine Verlobte samt seiner schlau erschlichenen östlichen Geheimformel den Häschern zu entkommen.

      Das wohl Einmalige an dieser Installation: die Wagenburg erscheint ausschließlich in Rost bei ansonsten halbwegs erhaltenen Karosserien.

      Wo hat man so etwas schon gesehen und gehört?

      Der erste Eindruck: Bild und Ton erzeugen verklärte Vergangenheit.

      Der zweite Eindruck: Bild und Ton provozieren einen Blick auf Künftiges.

      Während der kraftvolle Rock, gespielt und gesungen von dem erst seit einem Jahr von seiner Drogensucht befreiten Neil Young mit „Everybody knows this is nowhere“ bereits eine Zeit jenseits der Gegenwart kreiert, sprechen die glaslosen Scheinwerfer des seltsamen Fuhrparks eine andere Sprache.

      Dem nachzutrauern oder sich daran zu erfreuen, das mag jeder so tun, wie er mag.

       Moonlightexpress

      Jede gute Familie ist bestens geordnet. An kleinen eckigen Tischen steht an jeder Seite ein Stuhl.

      Selbst Spiele verlaufen nach Regeln. Das weiß man ja.

      Eisenbahnen drehen ihre Runden im Kreis oder in Achten.

      In Puppenstuben werden beständig blonde, brünette oder schwarze Haare gekämmt.

      Manchmal jedoch ist es Kindern erlaubt, Stühle aneinanderzureihen zu einem Zug, der sich bei Tageshelle langsam in Bewegung setzt – nicht allzu weit, immerhin zu neuen Ideen:

      Die Decken fehlen!

      Verdeckt wird das Gestühl zum Nachtexpress. Aus dem Kaufmannsladen schnell ein wenig Puffreis und paar Zuckerperlen gegriffen für den Speisewagen, ach – und die verstruwelte Puppe beinahe vergessen, und los geht’s mit Volldampf durch Wälder voller Wölfe und über Gebirge reich an tiefen Schluchten hinauf zum sanft lächelnden Mond, auf dem uns all die den Anreisenden gewogenen Geister, Feen und Trolle uns freudig erwartend entgegeneilen und nun händereichend rufen: „Wo ward ihr denn so lange, ja, wo ward ihr denn bloß?!!“

      Und ein aufgeregtes Erzählen will gar nicht enden, einander mit Freudentränen anschauend – wie immer auf gleicher Augenhöhe. Auf Augenhöhe? Wie war das denn nur möglich bei all den vielen Riesen und Zwergen in der Runde?!

      Zuletzt singen wir zusammen mit Peterchen und Anneliese unser liebstes Trostlied – begleitet von Herrn Sumsemann auf seiner Geige voller Inbrunst, denn er hatte es heute mit hilfreichen Mächten vermocht, sein sechstes Beinchen zurückzuerobern:

      „… verschone uns, Gott, mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen und unseren kranken Nachbarn auch.“

      Und wie sehnsüchtig doch begeben wir uns auf den Heimweg – zu unser geliebten Mutter. Hat sie nicht bereits zum dritten Mal zum Abendbrot gerufen?

      Mit Mut und Zuversicht kehren wir zurück in unseren nächsten Lebensabschnitt - in den Vertrauen stärkenden geplanten Alltag.

       Statione Termini

      Etwas jünger vielleicht als Bruno, der an der Seite seines bislang arbeitslosen Vaters nach dem diesem gestohlen Fahrrad (die Voraussetzung für den Minijob als Plakatkleber) sucht – vergeblich! -, habe ich erstmals erlitten, dass Väter nicht nur streng sein, sondern auch weinen können.

      Jahre später noch habe ich wie die Laientheaterenthusiasten und die Müllmänner den beiden bei der Suche helfen wollen …

      Endlich in Rom suche ich nach Bruno, meinem gefühlten Alter Ego.

      Doch kein Viertel der Stadt zeigt sich mehr so, wie es einmal war, als Bruno sie durchstreife.

      Und dennoch entdecke ich ihn endlich an der Statione Termini.

      Er winkt mir bedauernd zu mit einer Handbewegung, wie sie als typisch erscheint für Menschen aus Italien, steigt in den Zug und reist hinfort.

      In einem kleinen Kino nicht weit vom römischen Hauptbahnhof durchschauert mich ein arabisches Leinwanddrama über ein Mädchen, das davon träumt, ein Fahrrad zu besitzen.

      Meine Gewohnheit, mich nur innerhalb der Grenzen Europas zu bewegen, werde ich wohl bald aufgeben müssen.

       Brescella

      In der italienischen Region Emilia-Romagna hat Jesus Christus zu einem Menschen gesprochen.

      Deswegen hat dieser – gelegentlich auf einem Rennrad unterwegs – für seinen geheiligten Herren gekämpft – manchmal sogar mit der Faust.

      Und gekämpft hatte der katholische Geistliche einst gegen den Faschismus, gemeinsam mit einem Kommunisten, der später von den Einwohnern Brescellas zum Bürgermeister gewählt wird.

      Im Roman und im Kino ist alles möglich. Zumindest Letzteres hat es auch in der Wirklichkeit gegeben.

      Neben der Buchreihe hat bzw. haben wohl kaum ein Film (und