Eckhard Weise

Reisen der Sehnenden


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Freund*innen, Vereins- und teilweise sogar Familienmitglieder zu bewahren.

      Über viele Wochen also war ein engmaschiges Netzwerk entstanden, das von evangelischen Kindern und Jugendlichen ausgehend die Hilfsbereitschaft in praktischen Rettungsmaßnahmen durch einen maßgeblichen Teil der Dorfbewohner*innen effektiv zu koordinieren vermochte.

      Nach Pfarrer Altrock war die 14-jährige Paula Lohmann sozusagen der zweite Eckstein dieser Bewegung. Sie benachrichtigte in aller Eile aber nicht unbesonnen ihre beteiligungswilligen Mitkonfirmand*innen, die wiederum ausschwärmten, um die verschworenen erwachsenen Vertreter*innen der Dorfgemeinschaft zu kontaktieren, damit ein sogenannter Dorfrat einberufen werden konnte.

      In der Zusammensetzung dieses Rates spiegelten sich in etwa die altersmäßigen, sozialen, beruflichen und glaubensmäßigen Verhältnisse von Anderdorf: ein christliches 14-jähriges Mädchen also war vertreten wie eine 93 Jahre alte Baronin, Arbeiter*innen, Bäuerinnen und Bauern, Bürger*innen, ein staatlicher Mandatsträger, nämlich Bürgermeister Niemeyer, selbstverständlich Mitglied der NSDAP … wie sollte es auch anders sein. Und auch meine Wenigkeit, das berichtende Dorfschullehrerlein.

      Von besonderer Wichtigkeit in der Runde erwies sich die Beteiligung des kommunistischen Druckermeisters Erwin Grosche, der seit der Machtergreifung der Nazis Anfang 1933 gute vielfältige Erfahrungen sammeln konnte mit der Fälschung von Pässen, in der es nicht allein genügte, das „J“ verschwinden zu lassen.

      Zum Vorsitzenden hatte die Versammlung den 85-jährigen dänischen Kapitän Asmus Rasmussen gewählt, der seine Heimat in den frühen 20er Jahren verlassen hatte, um seiner großen Liebe Rosemarie nach Deutschland zu folgen, einer einst hochrangigen Genossin der KPD, die im Zuge des Reichstagsbrandes 1933 verhaftet worden war und seitdem in den Folterkellern der Gestapo als verschollen galt.

      Ihr trauernder Ehemann, ein aufrechter Sozialdemokrat, hatte viel lernen können von seiner mutigen Frau, von den Kader- und Konspirationsprinzipien der KPD, insbesondere im Zusammenhang mit Aktionen in rein politischer wie auch militanter Form, die generell so durchgeführt wurden, dass die Aktivisten gemeinsam handelten, naturgemäß, jedoch niemand eine Genossin und/oder einen Genossen persönlich kennen durfte, um im Falle der Gefangennahme niemanden verraten zu können – was bekanntlich nicht, wie erhofft, vor Folter der Nazischergen schützte.

      Der alte Käpten eröffnete die Sitzung mit seinem Credo: „Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Dann setzte er fort: „Meiner Meinung nach sind unsere Chancen, hier und heute zu gewinnen, sehr gering. Was wir wissen, ist, dass sie heute Vormittag mit der Generalprobe begonnen haben. Was wir nicht wissen, wann die Stunde der großen Erstaufführung folgt. Heute Abend noch? Morgen früh? Aber genau diese Unwissenheit lässt uns für Momente nur - vielleicht - nicht den Mut verlieren, unseren Rettungsplan schnellstmöglich in die Tat umzusetzen, statt wie das Kaninchen vor der Schlange zu erstarren. Aber wir müssen sofort handeln. Es begebe sich bitte jeder an seinen Platz. Gott sei mit uns.“

      3

      Das von langer Hand vorbereitete Notfallkonzept sah im wesentlichen drei Ebenen der Errettung vor:

      - das direkte Verstecken von Menschen hier im Dorf an vielen geheimen Örtlichkeiten insbesondere im Bereich der Bauernhöfe, die zunächst mit Vorräten für zwei bis drei Wochen ausgestattet waren

      - das indirekte Verstecken vor allen von Kindern und Jugendlichen in nichtjüdischen Familien. Ihnen wurden nicht nur der Judenstern abgenommen, sie erhielten auch neue Ausweise, soweit das vom Alter her nötig war. Dies war eine sehr kurzfristige Maßnahme, bis geeignete Reisewege gefunden wurden, denn es war selbstverständlich damit zu rechnen, dass kein Einwohnermeldeamt den Blick in seine Karteien verweigern würde.

      - die Flucht ins Ausland von möglichst vielen umliegenden Bahnhöfen aus. Die Exilanten waren versorgt worden mit unauffälligem Gepäck, Fahrkarten für Bus, Bahn und Schiff, neuen Papieren und das wichtigste vielleicht – mit Adressen von Gastgebern in Skandinavien, Großbritannien, Frankreich und Übersee.

      Das zivile wie zivilcouragierte Kommando „Schutzengel“ lief weitgehend reibungslos ab, weitaus besser zumindest, als Kapitän Rasmussen zu hoffen gewagt hatte. Besonders erfreut hatte ihn das vorbildliche Engagement von nichtjüdischen und jüdischen Freundeskreisen unter den Jugendlichen. Andererseits tat sich gerade hier eine höchst enttäuschende Neigung zum Verrat der Aktion auf.

      Zunächst möchte ich von der gelungenen „Verbringung“ der Tante Mie berichten, der Besitzerin des Dorfladens. Wie konnte wohl der allseits sehr beliebten jüdischen Kauffrau geholfen werden, damit sie nicht an Leib und Seele Schaden nehmen würde, und die Dorfbevölkerung womöglich Hunger erleiden müsste?

      Fast um die Uhr herum versorgte sie ihre seit Jahrzehnten gewachsene treue Kundschaft stets mit dem Nötigsten an Lebensmittel vor allem. Wenn etwas fehlte in ihren Regalen, dann notierte sie sich das mit einem dicken Bleistift auf einer Liste. Mit der und einer großen hellbraunen ledernen Einkaufstasche begab sie sich in den einmal pro Woche, nämlich freitags, fahrenden Bus sommers wie winters ins 23 Kilometer entfernte Hersfeld, um die Kundenwünsche zu erfüllen.

      So kam es in der schneereichen Adventszeit schon mal vor, dass Tante Mie manchen Freitag Abend nicht nur mit ihrer Einkaufstasche sondern mit weiterem Gepäck überhängt und vollgeschneit vor ihre Ladentür trat und dem einen Mädchen oder anderem Jungen wie die leibhaftige segenbringende Weihnachtsfrau erschienen sein mochte.

      Seit vielen Jahren hatte sie es sich zur Angewohnheit gemacht, ihre Kunde*innen allen Alters zur Selbständigkeit zu ermuntern – Kinder und Jugendliche vorzugsweise. Es gab zuletzt kaum Käufer*innen, deren Warenwünsche nicht mit Tante Mies Aufforderung beschieden worden waren: „Nimm selbst!“

      Und diese Schrulle erwies sich als besonders nützlich – jetzt, in der Situation, in der Tante Mie versteckt werden musste, und sie wahrhaftig vertreten werden konnte durch Jugendliche vor allem, die die Lücke, die ein so herzensguter Mensch wie Tante Mie hinterließ, zwar nicht zu ersetzen vermochten, die aber voller Selbstvertrauen an ihre Stelle traten und dieser alle Ehre erwiesen.

      „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Wer weiß denn nicht, dass Goethes Imperativ, sein himmlischer Vorsatz, bis heute beständig angefeindet wurde und weiterhin wird. So auch in unserer kleinen Geschichte über das Ausnahmemusterdorf - gleichwohl mit Ausnahmen von der Regel.

      In welchem Spiel gibt es denn nicht einen Schwarzen Peter? In welchen Legenden gibt es nicht einen Verräter Judas Ischariot und/oder einen Verleugner Petrus?

      Bevor der Hahn gekräht hatte, zogen sie los mit ihren Rädern, Otto, Aron und Hans-Peter, nach Hersfeld, und zwar mit der festen Absicht, das Fluchtprojekt „Schutzengel“ an die Henker zu verraten, weil sie sich von ein paar Silberlingen hatten verlocken lassen.

      Die drei Jungen waren enge Freunde. Aber war denn Aron nicht ein Jude? Sehr wohl – was der Freundschaft indes keinen Abbruch leistete. Was durchaus schwer zu verstehen ist, dass Aron der Freundschaft zu zwei Nichtjuden einen wesentlich höheren Stellenwert einräumte als der Sicherung seines Lebens. Vielleicht, um nicht ewig der Außenseiter zu bleiben?

      Aron hatte mit seinen Freunden bis Ostern 1936 das 5. Schuljahr des Hersfelder Gymnasiums für Jungen besucht, das er nun im Zuge der Nürnberger Rassengesetze verlassen musste. Auch aus der Mitgliedschaft im Deutschen Jungvolk der Hitler Jugend, den Pimpfen, war er – selbstredend? - ausgeschlossen.

      Es war der Oberscharführer eben dieser Hitlerjugend Kurt Wolf, der seit Monaten seinen Jungstamm zur Wachsamkeit ermahnte in Stadt und Land, wo immer jeder einzelne von ihm auch wohnte, sich umzusehen und umzuhorchen, ob es irgendwelche Versuche der bolschewistischen Juden, dieser schmarotzenden Ratten, wie er sich stets auszudrücken pflegte, sich davonzuschleichen wie die Strauchdiebe, um ihrer gerechten Strafe zu entkommen. Für jede einzelne Aufdeckung solcher heimtückischen Vorhaben würden aufmerksame Detektive in unseren Reihen mit 100 Reichsmark und einer Tapferkeitsmedaille belohnt.

      Und die angefeuerten Freunde Otto und Hans-Peter versprachen ihrem guten getreuen Kameraden Aron feierlich, sich im Falle des erwartbaren Erfolgs die Geldbelohnung zu teilen.

      Als