Eckhard Weise

Reisen der Sehnenden


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Handeln schaffen?

      Die eine oder andere wird er geehelicht haben, seine getreuen Apostolinnen, die ihren Messias unermüdlich darum gebeten haben, ihrer Lebensbahn voranzugehen. Unter ihnen seine geliebte Mutter Maria natürlich und deren Schwester Maria Magdalena. Sie alle waren es nämlich, die ihn Empathie lehrten, denn wir Männer haben nun einmal keine oder kaum emotionale Intelligenz von Geburt an; wir müssen sie von den Frauen in unserem Leben erst beigebracht bekommen.

      Jesus hatte von ihnen also erfahren, was tiefes Mitleiden und Barmherzigkeit bedeuten.

      Wurde er womöglich wegen seines offensichtlichen Höchstmaßes an Einfühlungsvermögen als männlicher Außenseiter, als weibische Memme, als zu nichts Nutze Karikatur eines wehrhaften Mannes ans Kreuz geschlagen?

      „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

      Warum sollte sein vermeintlicher Vater es anders sehen als das Männerstrafgericht im lupenreinen Patriarchat des heiligen römischen Reiches?

      Wer bin ich?

      Allzu viel weiß ich bis heute immer noch nicht über mich.

      Doch eines ist mir gewiss: Ich bin ein Mensch, der sich entscheiden darf zwischen Jesus Menschensohn und einer Welt, in der Väter glaubten, mit ihren Kindern nicht reden zu müssen.

       The long, long way home …

      1

      In Schleswig-Holstein gibt es den Ort England gleich zwei Mal. New York immerhin einmal in Deutschland, und zwar in Osthessen.

      Und dort wuchs Phil auf, der eigentlich Hans-Peter hieß.

      Das kleine und das große New York haben neben der Namensgebung eine seltene Gemeinsamkeit: die Straßen werden nicht nach mehr oder weniger bekannten, manchmal längst in Ungnade gefallenen Männern wie Carl (Hänge-)Peters benannt, nach Pflanzen oder anderen Ortschaften, sondern schlicht und einfach nach Zahlen.

      Phil wohnte mit seinen Eltern und seinem drei Jahre älteren Bruder Rüdiger, besser bekannt als Jerry, in der Straße Nr. 131.

      Jerry war ein begeisterter Konsument von Heftchenliteratur, die es nicht in Buchhandlungen sondern nur am Kiosk zu kaufen gab: heiße Abenteuer aus dem wilden Westen mit ständigen Bedrohungen der braven Siedler durch kriegerische Indianerstämme, Landserhefte, die in immer ziemlich gleichen Geschichten unsere Wehrmachtssoldaten im Nachhinein als die im Grunde guten Kämpfer zur Verteidigung ihrer Heimat heroisierten – und am liebsten von allen las er die im ostamerikanischen New York spielenden Jerry-Cotton-Kriminalromane.

      Phil war vielleicht sieben oder acht Jahre alt, als Jerry damit begann, seinem kleinen Bruder Abend für Abend von seiner stets brandneuen Jerry-Cotton-Lektüre zu berichten. Jerry wusste so spannend von den Einsätzen der beiden Freunde, Jerry Cotton eben und Phil Decker, gegen das Böse zu berichten, dass der kleine Junge jedes mal heiße Ohren bekam.

      Das, was sich vor seinem inneren Auge abzeichnete, das waren zwei Filmebenen: auf der einen die konkreten Einsätze der beiden FBI-Agenten gegen das organisierte Verbrechen, Drogen- und Waffenschmuggel, Bandenkämpfe, Einbruchdiebstähle, Geiselnahme, Vergewaltigungen u. v. a.

      Die zweite Ebene wurde Phil bald zur zweiten Heimat: Die Geografie der Weltstadt und ihre Infrastruktur mit ihren auch aus dem Fernsehen bekannten Vierteln wie Eastside, Westside. Manhattan, New York City, die Bronx, Brooklyn, Harlem, das Ghetto der Schwarzen usw.

      Bald hatte er die Struktur der Stadt fest im Bild mit all den Straßen, die er nach jeder allabendlicher Erzählung immer besser den Stadtteilen zuzuordnen wusste. Im Osten seines Dorfes gab es eine kleine Sintisiedlung – was lag da näher, als sie mit Harlem zu benennen.

      2

      Nach zwei, drei Jahren war plötzlich Schluss mit New-York-Geschichten-Erzählen vor dem Einschlafen. Jerry hatte das Genre gewechselt, nachdem er zur Konfirmation drei Karl-May-Bände geschenkt bekommen hatte.

      Phil erbte Jerrys ansehnlichen Jerry-Cotton-Stapel, machte aus der Not eine Tugend und begann damit, Heft für Heft noch einmal selbst zu lesen, was wie nebenbei dazu führte, dass sich seine Schulnote im Schreiben und Lesen deutlich verbesserte.

      Später besuchte Phil die Realschule. Die Jerry-Cotten-Hefte gehörten längst nicht mehr zu seiner Standartlektüre. Er hatte die Welt von Jerry Cotten und Phil Decker schlicht und einfach verinnerlicht. Mit einem weiteren Vorteil im Hinblick auf seine schulischen Leistungen. Englisch war längst zu seinem Lieblingsfach geworden, und im 6. Schuljahr begann er damit, ganze Passagen aus der Krimireihe ins Englische zu übertragen – von uppercut zu uppercut sozusagen.

      Ab dem 9. Schuljahr beteiligte er sich an einer Englisch-AG, in der amerikanische Dramen behandelt wurden: Thornton Wilders „Our town“, Eugene O‘Neils „A Long voyage throug the night“, Tennessee Williams „A Streetcar named desire“ und – sein absolutes Lieblingsstück: Arthur Millers „Death of a Salesman“. Alles Stücke im übrigen, die ihre Erstaufführung am Broadway erlebt hatten. Dieses Theater mit seinen Programmen begeisterte ihn so sehr, dass er sich sein erstes Buch in Englisch kaufte: „The history of Broadway“.

      Besonders spannend darin fand er die Darstellung der 30er und 40er, als der junge Bühnen- und Hörfunkregisseur Orson Welles, das spätere Filmgenie, dort nach der Weltwirtschaftskrise seine höchst gesellschaftskritischen Stücke inszenierte hatte.

      Nach Abschluss mit der Note „sehr gut“ absolvierte er eine Lehre als Bankkaufmann in einer näheren Stadt. Auch hier war das Abschlusszeugnis derart ausgezeichnet, das seine Chefs gerne seinem Wunsch nachkamen, ihm allerbeste Referenzen auszustellen für eine Bewerbung an einer Bank oder Börse in den USA oder vorzugsweise in New York.

      3

      Phil hatte schnell Karriere als Börsenmakler in einem renommierten Brokerhaus gemacht.

      Der Job war einfach, aber höchst aufreibend. Er hatte aus einem Dollar in Windeseile zwei oder drei zu zaubern, ohne dass diese zwei oder drei Doller irgendwie durch reale Arbeit gegenfinanziert werden mussten, d. h., sie hatten sich auf dem Parkett summiert durch reine Spekulation.

      Nach einem Zehn-Stunden-Tag und dem regelmäßigen Konsum zweier Kannen Kaffee fiel Phil in seiner mondän ausgestatteten Suite in der Nähe des wiederaufgebauten Tradecenters wie ein Klotz ins Bett.

      Die Wohnung hatte Stil, war aber äußerst karg eingerichtet: ein Schallplattenapparat von Bang & Oluffson gehörte dazu wie ein Blu-ray-Player von Sony und zwei Buchstützen aus edlem Marmor. Dem entsprach ein Minimum an Software: auf dem Plattenspieler lag seit Jahren verstaubt sein Lieblingsmusical, Leonard Bernsteins „Westside Story“, im DVD-Player steckte Woody Allens „Manhattan“, und vom schweren Gestein leidlich eingeklemmt wurde Paul Austers New-York-Trilogie samt Grafic-Novel-Fassung.

      Die Musik hatte er sich einmal vor Jahrzehnten zu Gehör gebracht in perfekten High-Fidelity-Klang. Woody Allens Kultfilm hatte er bis zur Hälfte anzuschauen geschafft, bevor ihm die Augen zufielen. Und von der „New-York-Trilogie“ hatte er nicht eine Zeile zu lesen vermocht.

      Nicht dass das Anhören, Ansehen, Lesen der einzigen Software in seinem Hause nicht zu seiner täglichen Agenda gehörte, seit Jahren, seit Jahrzehnten, indes: sein Beruf verhinderte stets die Umsetzung des lang gehegten Vorhabens. Tatsächlich? Tatsächlich oder vorgeblich?

      Über kaum ein literarisches Werk hatte Phil so viel gelesen wie über Austers Meistertrilogie - „seine“ Stadt betreffend. Seitdem beschlich ihn das Gefühl, dass die Lektüre ihn aus der beruflichen Bahn hätte werfen können angesichts der behaupteten oder der tatsächlich zu erwartenden einfühlsamen Entfaltung alternativer Lebensentwürfe.

      Was hätte er denn machen sollen? Einfach kündigen und stattdessen ein Antiquariat erwerben in New Yorks Bücherquartier?

      4

      Nach 40 Jahren wurde Phil pensioniert. Da war er ergraut und 70 Jahre alt.

      Die ersten Tage und Nächte in der Freiheit verbrachte er im Tiefschlaf. Wenn er plötzlich hellwach im Bett saß und Herzklopfen bekam, half