Eckhard Weise

Reisen der Sehnenden


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froh er auch war über das ihm eher überraschend zugewachsene hohe Maß an mitmenschlicher dörflicher Gemeinschaft, der fast lebenslange Groß-New-Yorker lonesome Cowboy fühlte sich indes so manches mal überfordert, so dass er damit begann, einen für ihn passenden Rhythmus von Zuwendung und … nein n i c h t Abwendung, sondern Pausen von Zuwendung zu finden. (Am kürzesten, was die Abstände betrifft, gewiss gegenüber der ohnehin vielbeschäftigten unverheirateten Franziska, in die sich vermutlich bereits die gesamte männliche Bevölkerung von New York und Waldhagen verliebt hatte ;-!).

      Die ganztägige Begegnung mit Baron von Fürstenberg, dem Besitzer der Waldungen in und um die beiden Kirchengemeinden führte zu einer Art der näheren Bekanntschaft, wie sie Phil so nie in den Sinn gekommen wäre.

      Der Baron, selbst ein passionierter Förster, gab höchst kompetent Auskunft über den üblen Zustand der Wälder. Phil wich lange nicht von seiner Seite, weil er eine für ihn ganz andere Vorstellung von der Rettung der Wälder vertrat als sie gerade in Mode waren. Phil hatte auf der Eisenbahnfahrt von Frankfurt nach Waldhagen das Buch eines Försters gelesen, der mit Bäumen und anderen Pflanzen sowie Tieren tatsächlich oder angeblich zu sprechen vermag.

      Phil war recht angetan von dieser Sichtweise. Er vermochte sie zwar nicht so recht rational nachvollziehen, sie entsprach aber seinem tiefen emotionalen Bedürfnis, dass die allzu disparate Welt ein wenig näher zusammenrücken möge.

      Baron von Fürstenberg wiederum verachtete die Humanisierung des Waldes und vertrat die Auffassung, dass ein Wald wie seit 300 Jahren lediglich drei Funktionen zu erfüllen habe: Lebensgemeinschaft zu sein, Erholungsraum und Wirtschaftsareal.

      Sein Sohn gebe die „Schloss-Fürstenberg- Zeitung“ heraus, in der gerade über den Waldstreit ausführlich berichtet werde. Wenn Phil ihm seine e-mail-Adresse gebe, werde er ihm das Blatt zukommen lassen. Natürlich sei er auch eingeladen, selbst Artikel beizutragen – ob in sachlicher oder poetischer Form sei ganz egal.

      Wie herrlich die Pilze, der Waldboden die Bäume doch rochen. Sachtexte zu verfassen zur Thematik, er, der Sonntags zumeist immer nur im Centralpark zu flanieren vermochte, dazu fühlte er sich nun wirklich nicht berufen.

      Aber schon als Kind liebte er Bäume, als seien sie gute Freunde des Menschen.

      Plötzlich bekam er große Lust, über Bäume zu schreiben für die Schloss-Zeitschrift … kleine, große, aller Art… und zwar in Gedichtform.

      Im Verlauf seiner Teilnahme an der Englisch-AG hatte er den Wunsch verspürt, nicht nur Dramen zu lesen, sondern dazu angehalten werden, welche – und wenn es noch so kleine gewesen wären – selbst abzufassen. Hätte er statt Noten in Mathematik, Wirtschaft und Englisch auch ein Zertifikat für praktische Literatur (er war voller Ideen) erhalten, wäre er womöglich Schriftsteller geworden?

      Den Lehrer*innen konnte er keine Vorwürfe machen, denn es wäre allein seine Entscheidung gewesen zu schreiben. Jerry-Cotten-Texte zu übersetzen hatte ja auch keines Anstoßen von oben oder außen bedurft.

      Im nächsten Augenblick war ihm nicht länger zumute, über verpasste Lebenschancen zu räsonieren. Er nahm sein Notitzbuch aus der Jacke und skizzierte Verse über Birken im Schnee, Eichelhäher in der Spitze seiner alten Linde zwischen seinem Haus und der Kirche, sich suhlende Wildschweine mit ihren Frischlingen, eine Ameisenstraße – ach, wollte er sich nicht auf das Thema Bäume beschränken?

      Bei einem sonntäglichen Spaziergang trat eine ihm bekannt erscheinende etwa gleichaltrige Frau mit ihrem Hündchen auf ihn zu: „Hallo, ich bin die Bettina. Wir sind zusammen zur Schule und zum Konfirmandenunterricht gegangen.

      Ich war sehr verliebt in dich, aber du hattest es, glaube ich, nicht bemerkt.

      Der Mann, der mich geheiratet hatte, ist seit langem verstorben, und ich möchte gerne mit dir heute Abend zum Tanz gehen. Im Dörfergemeinschaftshaus findet heute ein Vorfrühlingsfest statt mit zünftiger böhmischer Volksmusik. Hast du Lust?

      Du musst mir unbedingt von deiner Zeit in den Staaten erzählen. Weißte, es war auch mein Traum, dort einmal hinzufliegen …“.

      7

      Wir neigen in unserer kleinen Geschichte vielleicht dazu, das große New York z u schwarzweiß zu sehen und das kleine z u sehr idealisieren zu wollen, was nicht dem Geschmack aller Leser*innen entsprechen mag.

      Deswegen könnten wir Bettina und Phil mit gutem Gewissen von 22 Uhr bis zwei Uhr nachts aufs Tanzparkett schicken (was im großen New York hätte ja genauso passieren können) und sie dann nach Hause schleichen zu lassen – todmüde, und jeder fällt in sein eigenes Bettchen.

      Andererseits hat sich der Autor einer nachfolgenden Geschichte, „Die Meerjungfrau“, möglicherweise von der Macht des Märchens z u sehr einstimmen lassen. Er geht nachts gegen zwei Uhr noch einmal zurück zur Festhalle.

      Bettina und Phil verlassen gerade Hand und Hand das Fest, und er hört ihn sagen:

      „Du, ich spüre, das könnte der Beginn einer sehr großen Freundschaft werden!“

      Na denn, good luck and good night!

       Kapitel II: Grenzfahrt

       Die Vögel

      Kein Grün war mehr zu sehen, kein Moos im Reetdach der Fischerkate.

      Bis hoch zum Bugspriet war es seit Tagen bedeckt allein von Schwarzem, Raben in Scharen.

      Nein, das hatte der alte Seemann in seinem Leben bislang noch nicht erlebt! Es half nicht sein Geschrei gegen soviel besitzergreifendes Ungestüm von gleich auf jetzt.

      Er hoffte zuletzt Antworten zu erhalten auf seine bangen Fragen: „Wo kommt ihr her? Wo wollt ihr hin? Wann nur wollt ihr endlich weiterziehen?“

      Da sprachen die bedrohlich wirkenden Tiere wie im Chor: „Wir hören Ihre Fragen hinreichend laut! Doch für uns geben sie keinerlei Sinn. Wir stecken nicht in der für weiße Männer üblichen nackt-geilen Zitterhaut … das müssen Sie verstehen. Wir ticken anders als Sie! Denn wir sind schwarz gefiedertes Mohrenvieh …

       Wollust

      Erträumte sie jegliche Nacht

      viel jünger mir Monat und Jahr.

      Endlich war sie zwanzig wieder.

      Wohl zwanzig Mal verging

      ich mich

      an ihr voll Lust!

      Froh weckt sie mich

      meinen Kurzbart

      zungenrundend.

      Befrag den Traum?

      Gar nichts sah ich -

      nur heiße Wangen …

       Liebeskummer

      Wo bleibst du nur, mein Rufen bis zum frühen Morgen?

      Nach ihr, nach ihr, nur nach dir!

      Kehrt ohne Echo wie ein Wort verstorben

      stumm zurück zu mir.

      Seit Nächten vertrocknen zwei Rosen

      in einer Kammer tränenloser Schmerzen.

      Kennst den Ort, musst nicht nach ihm suchen.

      Sie duften und sterben allein in meinem Herzen.

       Ideenschmiede

      Ich habe einen Einfall

      zu einem Sonett

      und visioniere eine Ballade.

      Beides etwa zugleich?

      Dieses wie jenes ganz nett

      doch schon ein wenig vage?

      Und kein Vers gibt dem anderen nach,

      tun wichtig sich und einander weh!

      Bis