Eckhard Weise

Reisen der Sehnenden


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Sinnen nicht: Flammen loderten aus allen Himmelrichtungen, lautes Gebrüll von teils in Kolonnen marschierenden, teils wild umherlaufenden SA-Leuten, die Fensterscheiben einschlugen und Sprüche wie „Kauft nicht beim Saujuden!“ mit weißer Farbe an Hauswände neben offenbar jüdischen Geschäften schmierten.

      Ihre Schule fanden die Jungen geschlossen vor. Der Pausenhof war übersät mit verletzten Menschen in Zivil wie in Uniform – unter ihnen der blutüberströmte Oberscharführer Wolf.

      Ihm die Aktion „Schutzengel“ verraten?

      Mit Abscheu wandten sie sich von ihm ab.

      Sie schämten sich vermutlich in einem ähnlichen Maße dafür, sich in Versuchung geführt haben zu lassen. Otto und Hans-Peter in der Hoffnung, ihr Taschengeld deutlich aufbessern zu können. Und der Aron wegen vermeintlicher oder tatsächlicher Blutsbrüderschaft oder einfach blinder Gefolgschaft.

      4

      Wie getretene Hunde kehrten sie in Richtung Anderort zurück, zitternd vor Angst, sie würden zu Hause ein ähnliches Bild der Zerstörung im Kleinen vorfinden wie in der Stadt. Dort angekommen staunten sie nicht schlecht darüber, das ihr Dorf verschont geblieben war.

      Hatte es denn selbst einen Schutzengel gehabt?

      Sie suchten sofort Ottos und Hans-Peters Konfirmationspfarrer auf, um ihm vom Inferno in Hersfeld zu berichten und ihre schändlichen Gedanken und Begehrlichkeiten tränenreich zu beichten.

      Der Seelsorger hielt jedem von den drei Freunden für einen Augenblick die Hand auf den Kopf und sprach: „Im rechten Moment ist aus dir, einem Saulus, ein Paulus geworden. Es sei dir verziehen.“

      Dann berichtete er ihnen, dass er bereits gehört hätte, die Nazis wären auch mit ihrem zweiten Versuch, diesmal in einer einzigen Stadt, gescheitert, den Flächenbrand einer reichsweiten Pogromstimmung zu entfachen. „Gott sei‘s geklagt. Wir wissen nicht, wie es weitergeht.“

      Was denn aus der Aktion „Schutzengel“ geworden sei, wollten die Jungen von Herrn Altrock wissen.

      Dieser verweigerte ihnen die Antwort auf ihre Frage mit der Begründung, das dürfe er ihnen gar nicht sagen. „Alle aktiv und passiv Beteiligten seien zu strengstem Stillschweigen verpflichtet. Aus Sicherheitsgründen. Ihr seht ja, was ihr beinahe angerichtet hättet. Aber eines kann ich euch sagen. Von einer Konfirmandin, den Namen darf ich euch natürlich nicht nennen, war etwas von eurem gemeinen Vorhaben zu Ohren gekommen, fragt mich nicht wie. Der mögliche Verrat wurde seinerseits zum Glück verraten, und die Alarmsignale standen auf Rot. Gott sei‘s gedankt!

      So, Kinners, wir müssen eilen. Wir haben schnellsten eine Lösung für die Sicherheit Arons zu finden.

      Ich kann euch nur raten, sofort Kapitän Rasmussen aufzusuchen. Vielleicht vermag er noch Hilfe zu leisten. Lieber heiliger Gott, beschütze uns. Amen!“

      5

      Tatsächlich wusste der alte Ozeanüberquerer Rat und vermochte noch, wenn auch spät, den für Aron eigentlich längst vorgesehenen Platz im „Seenotrettungsboot“ zuzuweisen. Womöglich durch Gottes Beistand. Denn warum bewegte sich heute am 8. November die Hasswelle von Hersfeld nicht weiter ins umliegende Land bis hinein in die kleinsten Dörfer? Wir wissen es mal wieder nicht.

      Zeit war also gewonnen, und die reichsweite Katastrophe wütete erst oder aber dennoch am folgenden Tag, am 9. November, der Reichspogromnacht – oder im Volksmund verharmlosend Reichskristallnacht genannt.

      Wir wissen, welche unglaublichen Schrecken und nachfolgende Leiden sie verursachte als unmittelbarer Vorläufer des Holocausts nicht nur aber auch im kleinen Dorf Rhina. Wer kann das Ausmaß dieses Unheils wohl jemals fassen?!

      Berichtete ich anfangs nicht, dass sich das utopische Wunder von Anderort in der realen Ansiedlung Buchenwald wiederholte? Gewiss …

      Zu ergänzen ist in diesem Zusammenhang nämlich die Kunde, dass sich solch unglaubliches Geschehnis der Verschwesterung und Verbrüderung von weit größerem Ausmaß als an zwei kleinen Orten in Deutschland ereigneten, nämlich in einem ganzen Land, einer kleinen Nation im Norden Europas, in Dänemark.

      Bevor die deutsche Wehrmacht samt SA, Waffen-SS, SS und Gestapo im Gepäck unser nördlichstes Nachbarland am 9. April 1940 im Schnellschritt eroberte und besetzte, hatte sich längst der greise weise Kapitän Rasmussen mit seiner Tochter Kirsten und Enkelin Bente in die alte Heimat aufgemacht, um von seiner Geburtsstadt Slagelse auf Seeland aus die Verschiffung der dänischen jüdischen und ziganen Bevölkerung mitzuorganisieren. Auch und gerade dank seiner aus praktischen Erfahrungen erwachsenen Taktiken und Strategien konnte der Großteil der vom Tode bedrohten Menschen ins sichere neutrale Schweden verbracht werden.

      Dass der getaufte Christ Rasmussen selbst abstammte aus einer Sippe der verfolgten Roma – wie somit seine Tochter und Enkelin -, hatte nie jemand außer seiner lieben Ehefrau erfahren, weder jemand sonst in Anderort noch in Dänemark – ausgenommen natürlich seine Vorfahren.

      Er starb in den frühen 50er Jahren einen friedlichen Tod in den Armen abwechselnd mal von Kirsten, mal von Bente – mit sich und den Seinen im Reinen.

      Wie hatte er doch seine Verdienste um das Menschenheil anlässlich seines 90sten Geburtstages genannt? „Och, Kinners, alles doch bloß Taktik!“

      Ist ein solches Märchen nicht wert, auch zweimal gelesen zu werden, würde wiederum d e r deutsche Anekdotenerzähler Johan Peter Hebel gefragt haben.

      Damals in Zeiten, als viele Menschen noch gelesen und ans Wünschen geglaubt hatten.

       Reisen ins Verlassenwerden und Verlassen. Und ins Vergessen?

      Im Alter von 15 bis 16 Monaten etwa glaubte ich schmerzhaft, von Mutter und Vater verlassen worden zu sein.

      Mit angebrochenem Schädel wurde ich von einer Spielplatzschaukel eiligst in eine Kinderklinik verbracht, wo man damals tatsächlich noch mit höchster Sicherheit meinte, dass der Heilungsprozess verkürzt und beschleunigt werde, wenn man Mütter und Väter von uns fernhielt.

      Als ich im Alter von 15 Jahren von einer Klassenfahrt heimkehrte, fand ich – trotz Absprache - meine Mutter nicht vor. Vater war letztes Jahr verstorben.

      Nach langem Klingeln saß ich viele Stunden traurig und vereinsamt vor der Haustür.

      Es musste ihr etwas zugestoßen sein!

      Als mein Bangen ins Unermessliche zu steigen schien, hatte ich eine zündende Idee.

      Meine Tante und mein Onkel wohnten ja auch in der Stadt, in die wir vor kurzem hingezogen waren.

      Mit beklommenem Herzen und feuchten Augen stand ich vor der Tür.

      Schon nach dem ersten Läuten öffneten sie alsbald und schauten mir voller Betroffenheit in mein nach Hilfe rufendes Gesicht.

      „Aber Junge, was ist denn bloß passiert?“

      Sie zogen mich zu sich hinein, wollten mich sogleich mit allerlei Köstlichkeiten in Speis und Trank sehr liebevoll beruhigen. Aufgebracht wie ich war, wollte ich zunächst erzählen, was ich soeben erlebt hatte.

      Immer wieder warfen sie kopfschüttelnd und schallend die Hände zusammen aus Kummer und tiefstempfundenem Mitgefühl, aber auch aus Verzweiflung darüber, dass sie mir nicht recht zu helfen wussten.

      Schließlich versuchte mein lieber Patenonkel, mich zu trösten, vielleicht sogar ein wenig aufzumuntern, indem er murmelnd flüsterte: „Ja, du mein armer und noch so junger Neffe, manchmal ist das Leben wie eine Hühnerleiter. Einfach nur beschissen!“

      Doch weder ihm noch mir gelang es, dem ach so leidenden Jungen ein wenn auch noch so kleines Lächeln abzuringen.

      Wo meine Mutter sich derweil aufgehalten hatte – und wieso, weshalb, warum, habe ich sie seltsamerweise zu ihren Lebzeiten nie befragt.

      Wieso, weshalb warum sie ihr Geheimnis ungelüftet mit hineinnahm in ihr kühles Grab, das habe ich vergessen.

       Wenn einer