Eckhard Weise

Reisen der Sehnenden


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zweier Dickschädel, aber auch ihrer Zeichen der Versöhnlichkeit aus alter und neuer Verbundenheit. Inszeniert wurden sie in dem am Po liegenden Dorf Brescella.

      Und das ist das Wunderbare für uns Kinoreisende: das Drama über Brunos vergebliche Fahndung nach dem gestohlenen Rad ist auch die hier gedrehte Serie überwiegend außerhalb vom Studio Cinecità entstanden.

      Im Unterschied zu Rom jedoch ist in Brescella fast noch alles am alten Ort.

      Die Gassen, die Pappelallee vor dem Deich, der Platz in der Dorfmitte.

      Und welche Liebhaber*innen dieses einzigartigen Ambientes trotz Strapazierung aller grauen Zellen gar nicht mehr so sicher ist, mit bzw. von wem, was, wann passiert ist, gesagt, geflüstert oder gebrüllt wurde, der oder dem sei ein Besuch des inzwischen zentrumsnah errichteten „Museo di Don Camillo e Beppone“ anempfohlen, das immerhin mit allen sechs Teilen der Kultserie aufwartet.

      Wir lauschen indessen unbeirrt dem vertrauten Klang der Glocken, du betrittst andächtig das altehrwürdige Kirchenhaus, den angenehmen Duft des Weyrauchs nimmst du wahr - erstmals natürlich.

      Doch dann? Ich traue meinen Ohren nicht.

      Spricht da nicht plötzlich aus der Apsis eine sanfte Männerstimme zu dir?

       Warschau

      Mitten im Krieg war mein Großvater mit meiner kaum 16 Jahre alten Mutter in der Straßenbahn durchs Warschauer Ghetto gefahren, um sie davon zu überzeugen, dass, wenn sie es denn täte, nicht länger an Hitler glauben dürfe.

      Und von diesem Tage an glaubt sie tatsächlich ihrem gütigen Vater mehr als der Anführerin des „Bundes deutscher Mädel“ in ihrem Wohnviertel – was gar nicht so wenig Mut erforderte unter den damals herrschenden Verhältnissen.

      Dennoch. So oft mir beide von ihrer kurzen Durchfahrt durchs Ghetto erzählten, in der sie eingesperrte jüdische Menschen betrachteten, der Eindruck, den ihr Erschrecken in meiner jugendlichen Vorstellungswelt hinterließ, erwies sich als recht wage, und das Ausmaß des Leides der Gefangenen blieb über viele Jahre allzu abstrakt.

      SS-Schergen erstürmen eine Ghettowohnung im 4. oder 5. Stock, in der sie Widerstandskämpfer vermuten.

      Sie treffen auf eine gutbürgerliche Familie beim Abendessen. Als der im Rollstuhl sitzende Großvater es wagt, die Soldateska zu fragen, warum man sie beim Essen störe, wirft man ihn in Sekundenschnelle vom Balkon.

      Roman Polanski, der als Kind das Ghetto erleiden musste und ihm wie durch ein Wunder entkam, veranschaulichte für mich allein schon mittels dieser einzigen Filmszene das schlimmste Ausmaß solcher Willkürherrschaft. Ich erschauderte an Leib und Seele.

      Mein Großvater und meine Mutter – hatten sie denn das Martyrium, das sich hinter dem Bild der zwar gefangenen, aber doch auch geschäftig erscheinenden Kinder, Frauen und Männer, verbarg, zu erahnen oder zu verspüren vermocht?

      Um wie viel stolzer bin ich doch seit diesem Kinotag auf meine Mutter und auf meinen Großvater!

       Anderort

      1

      Die Verfolgung von religiösen Menschen durch andersgläubige Menschen reicht weit zurück in der Historie von uns Erdenbürgern und wird leider auch unsere Zukunft prägen – in welchem Maße, darüber entscheidet das veränderbare Größenverhältnis von Humanisten zu Menschenfeinden: erbarmungslose Verfolgung von Schwarzen durch Weiße, Christen, Juden, Sinti, Roma und andere Ethnien und Glaubensrichtungen auf der einen Seite, deren beherzte Rettung auf der anderen Seite.

      Die Macht von Verbrechen gegenüber Barmherzigkeit ist, wie wir ja wissen, nicht abhängig von einem womöglich alternativlos waltenden höheren Schicksal sondern vom Gewissen jedes einzelnen von uns.

      Ich will eine kleine utopische Geschichte erzählen aus einer Schreckensepoche, als Millionen jüdischer Mitbürger insbesondere von Deutschland aus nach Auschwitz verbracht wurden, um dort vergast zu werden.

      Angesiedelt ist sie in einem waldhessischen Bergdorf namens Anderort zwischen Hersfeld und Fulda gelegen und sieben Kilometer südlich von einer anderen waldhessischen Ortschaft namens Rhina.

      In der Zeit der Schilderung dieser Geschichte, nämlich vom 7. bis 9. November 1938, lebten in beiden Dörfern jeweils um die 700 Einwohner, wobei die Mehrheit jeweils dem jüdischen Glauben anhing.

      Die Geschichte Rhinas ist im Unterschied zu der Anderorts eine Dystopie und sehr real: alle jüdischen Einwohner*innen wurden gefasst, nur die wenigsten überlebten die Todeskammern.

      Die Utopie Anderort dagegen besteht, je nachdem, wie wir es sehen wollen, aus faked news oder aus der Schilderung einer möglichen Welt, die anders ist und erst sieben Jahre später an einem realen anderen deutschen Ort geschieht, nämlich im KZ Buchenwald auf dem Ettersberg bei Weimar, wo malträtierte gefangene Männer mit einem gelben Stern und andersfarbigen Winkeln am blauweiß gestreiften KZ-Einheitshemd, Juden also, Kommunisten, Sozialdemokraten, Christen, Homosexuelle, Kriminelle gar der Welt ein wahres Wunder bescherten, nämlich gemeinsam ein kleines jüdisches Kind in ihren Behausungen zu verstecken und somit vor der Reise in den Tod zu bewahren.

      Der ostdeutsche Schriftsteller Bruno Apitz hat über das Wunder dieser glaubens- wie anhängerschaftsübergreifenden Mitmenschlichkeit einen ergreifenden Roman geschrieben, „Nackt unter Wölfen“, der verfilmt wurde zunächst in der DDR u. a. mit Armin Müller-Stahl fürs Kino und später nach der Wiedervereinigung noch einmal fürs Fernsehen.

      2

      Es war gegen Mittag, als Pfarrer Thomas Altrock in Anderort einen Anruf von seinem Amtsbruder Jakob Münster aus Kassel erhielt. Der fragte nur, ob es bei ihnen im Dorfladen heute auch weniger Bananen gegeben habe, und erhielt eine verneinende Antwort. Sie legten rasch wieder auf. Beide Männer verstanden sich als Anhänger der von Dietrich Bonhoeffer gegen die opportunistische Mehrheitskirche der Deutschen Christen begründeten antifaschistischen Bekennenden Kirchengemeinschaft. Genau wie die Amtsbrüder, die aus Fulda und Bebra in Anderort anriefen mit ähnlichen Fragen wie diejenige von Pastor Münster, nämlich ob es nach wie vor nötig sei, mit Gesangsbüchern bzw. einer Vervielfältigungsmaschine auszuhelfen.

      Am 7. November 1938 lag Brandgeruch in der nord- und osthessischen Luft.

      Was aber genau hatten die Telefonate der geistlichen Herren zu bedeuten?

      In einer Art Geheimsprache – denn selbstredend wurde die Telefone von der Gestapo abgehört – hatten sich die Kollegen darüber informiert, dass einerseits Zerstörungen jüdischer Geschäfte, initiiert durch SA-Schlägertrupps, begonnen wurden, diese andererseits aber offenbar ohne nennenswerte Gewaltbereitschaft von Seiten der breiten Bevölkerung blieben.

      Und am Abend wusste man mit hinreichender Sicherheit, dass es den Nazis mit dieser Art Generalprobe in den drei genannten hessischen Städten nicht gelungen war, den höllischen Funken auf weitere Gebiete überschlagen zu lassen.

      Für Pfarrer Altrock, dem trotz aller Vorahnung die Nachrichten mit großem Schrecken in die Knochen gefahren waren, bedeuteten sie, sofort Alarm zu schlagen in dem Teil der Dorfgemeinschaft, der sich eindeutig dafür entschieden hatte, in unterschiedlichen Formen Widerstand zu leisten gegen die rassistische Diktatur – dort also den Notfall auszurufen so heimlich wie nur irgendwie möglich, aber auch so nachdrücklich.

      Thomas Altrock wählte die Nummer der örtlichen Polizei. Neben dem Pastorat und der Feuerwehr gab es nur dort noch ein Telefon im Dorf.

      Es meldete sich die Gattin des Wachtmeisters, Frau Lohmann, die er bat, ihre Tochter Paula, seine Konfirmandin, zu ihm zu schicken, um mit ihr noch Einzelheiten der Gestaltung des Ende des Monats stattfindenden Totensonntages vorbereiten zu können.

      Kaum fünf Minuten später klingelte es an der Tür des betagten Pastorats. Lisbeth, die Frau des Pfarrers, öffnete, bat Paula herein und im Wohnzimmer Platz zu nehmen und bot ihr eine Tasse mit heißem Kakao an.

      Als der Pfarrer den Raum betrat, wusste Paula sofort Bescheid.

      Seit vielen