Eckhard Weise

Reisen der Sehnenden


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Terrasse bei einem Glas Rotwein gemütlich gemacht. Rosanna leitete eine große Tourismusfirma, und Robert arbeitete als Realschullehrer. Nächste Woche begannen die Sommerferien, und beide freuten sich seit Tagen darauf, mal wieder auf einer ihrer Lieblingsinseln Urlaub zu machen: Gotland, Bornholm oder Elba.

      Beide bekannten sich dazu, eingefleischte Zentraleuropäer zu sein. Mit anderen Worten: sie hatten ihren Kontinent noch nie verlassen – weniger aus politischen Gründen, vielmehr wegen der klimatischen Bedingungen – aber a u c h aus politischen.

      Rosanna und Robert waren von der 68er-Bewegung sozialisiert worden. Beide fühlten sich keiner extremen Seite nah, sondern neigten zu gemäßigten Positionen, denen sie noch heute mit gutem Gewissen anhingen.

      Heute morgen hatte es in Rosannas Büro eine große Überraschung gegeben: Die Sektkorken knallten, und der Hauptpreis des diesjährigen Großpreisausschreibens der Firma ging ausgerechnet an die Leiterin der Filiale - der Gewinn - nicht mehr aber auch nicht weniger als eine komplette Weltreise all inclusive!!

      Freude wollte in Rosanna nicht so recht aufkommen. Drohte der große Glückswurf womöglich überwiegend aus politischen Gründen zur halben Niete zu mutieren?

      Sie saß etwas zerknirscht in ihrem Sessel, während sich der hocherfreute Robert alle Mühe gab, seine Frau aufzuheitern und vor touristischen Kompromissvorschlägen nur so zu sprühen.

      Die beiden gerieten in eine unvermeidliche kontroverse Unterhaltung, keineswegs gab es richtigen Streit, denn dafür hatten sich die beiden viel zu gern, die bereits als junge studentische Rucksacktouristen hochverliebt durch Skandinavien getrampt waren. Wir hören mal rein in den Meinungsaustausch.

      Robert: „Schatz, kannst du dir vorstellen, dass wir uns zumindest teilweise mal auf die rein touristischen Highlights in dem einen oder anderen Land konzentrieren? Ich hätte große Lust, mit dir auf einer Harley-Davidson über die Route 66 zu touren oder voller Ehrfurcht vor der Oktoberrevolution das Winterpalais in St. Petersburg zu besichtigen.“

      Rosanna: „Nach Russland und in die USA zieht mich so gar nichts hin, nein.

      Wie gerne wäre ich dereinst in die Tschechoslowakei gereist oder nach Chile, um hautnah zu erleben, wie Allendes Revolution oder der Prager Frühling große Menschheitshoffnungen gegenüber gelebter Realität habe gedeihen lassen, den Glauben fest verankert in Menschlichkeit in einer Freiheit, welche auch die Unverletzlichkeit der Andersdenkenden garantiert!

      Unter russischen und US-amerikanischen Panzern wurden solche Träumer über Nacht zermalmt – samt deren Angehörige – sowie sie nicht in zappendusteren Verliesen oder flutlichthellen Stadien zu Tode gefoltert wurden.

      Denn der sogenannte real existierende Sozialismus und der kapitalistische Wirtschaftsliberalismus hatten gefälligst alternativlos zu bleiben! Aber das weißt du ja alles.“

      Robert: „Dem habe ich auch herzlich wenig entgegenzusetzen. Du hast wohl wie meistens Recht. Meinen Schülerinnen und Schülern würde ich vermutlich die Geschichte in deinem Sinne folgendermaßen weitererzählen: Nach Ende des Ost-West-Konflikts schien der sogenannte Kommunismus – weil augenscheinlich fest verbunden mit Gulags, Mauer und Schießbefehl für alle Zeiten diskreditiert.

      Im Unterschied zum Kapitalismus, der nur bedingt mit Schreckensherrschaften wie dem Faschismus in Deutschland, Italien und Japan, in Portugal und Spanien bis in die 80er Jahre und erneut in der Türkei und Griechenland in Verbindung gebracht wurde, konnte er doch bis in die Gegenwart als reformierbar, zumindest als bereit, von vermeintlich oder tatsächlich erschrockenen Politikern sich zügeln zu lassen.“

      Rosanna: „Ich weiß nicht so genau, Robert. Zeigt sich heute nicht doch eher das Gegenteil?

      Politiker werden gegängelt von freiagierenden Finanzmärkten zum Preis einer nie dagewesenen Umverteilung der Einkommen von unten nach oben. Der soziale Friede scheint weltweit gefährdet, ohne dass Spielarten von Sozialismus oder Kommunismus einen Ausweg böten – nirgendwo in der Welt in praktikabler Form.

      Und Kuba, China, geschweige denn Nordkorea bestätigen die Gewissheit, dass es auch im Brennkessel der Welt, im Nahostkonflikt, bis auf weiteres keinen Ausweg geben wird – mit aller Gewissheit.“

      Robert: „Du bringst mich als alten Pauker auf eine blendende Idee. Vielleicht wäre heute, wo Kinder und Jugendliche die Schule schwänzen, um Freitags auf die Straße zu gehen, die Lösung aus dem Dilemma so schwierig nicht: Ein hochdotierter Preis müsste ausgelobt werden für die Gewinner des Wettbewerbes ,Jugend forscht‘!

      Erforscht werden müssten in Deutschland und/oder auch in anderen Ländern für ein Jahr ausnahmsweise nicht der Bereich der Natur-, sondern der der Sozialwissenschaften – konkret mit der Aufgabe, Gesellschaftsmodelle zu entdecken oder zu erdenken, die den Frieden der Menschen untereinander aufrechtzuerhalten im Stande sind und die Wohl und Gedeih aller Erdenbürger samt der Natur nachhaltig zu fördern und zu sichern helfen und sich in gründlichst-strengen Praxistests zu bewähren versprechen.

      Einzige Voraussetzungen solcher Modellversuche: das offensichtlich Üble von Kommunismus und Kapitalismus müssen ohne wenn und aber ausgeschlossen bleiben: Die Verringerung jeglicher Freiheit der Menschen durch den Willkürstaat sowie die hemmungslose Ausbeutung der Menschen zwecks Maximierung der Gewinne um jeden Preis durch die Finanzmärkte insbesondere also.

      Das Gute jedoch beider Ideologien im Ansatz, nämlich das Anreizprinzip einerseits, das Ausgleichs- bzw. das gerechte Umverteilungsprinzip andererseits dürfte zur Prämisse des Unternehmens werden.“

      Rosanna: „Mensch Klasse, dein Anreizsystem, mein Liebling! Komm, gieß mir noch ein Glas ein.

      Die Gold-, Silber- und Bronzemedaillen gehen - vermutlich – an Jugendliche in Griechenland, Portugal oder Spanien und die USA. Da dort eine besonders hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen zu beklagen ist – natürlich!

      So ist nämlich dort die Motivation zu forschen wahrscheinlich am höchsten.“

      Robert: „Der Gewinn der Preise würde die Siegerinnen und Sieger persönlich belohnen, aber auch als Angehörige einer Generation der Hoffnung: der Erhalt der Berufs- bzw. der Erwerbsfähigkeit werden sich für sie als plausible Auswege aus Weltkrisen erweisen – und die von Tausenden anderer Mitstreiter ebenfalls. Und jetzt gieß du mir noch ein Glas ein.“

      Inzwischen hatten die beiden eine zweite Flasche Wein angebrochen und angefangen, sich g e m e i s a m auf die Weltreise zu freuen. Gotland, Bornholm und Elba wurden in den Bereich der angenehmen Erinnerungen verschoben.

      Beim Inselhopping sollte es gleichwohl bleiben. Das Schachbrett wurde hervorgezogen, und wer siegte, durfte eine Insel benennen oder zumindest vorschlagen: Sansibar – wunderbar! Sri Lanka, na klar! Borneo, jo, jo!

      Zuletzt gewinnt Robert noch einmal: „Kuba!“. Rosanna: „Einspruch, Euer Ehren!“

      Und dann fielen beiden recht bald die Augen zu.

       Wer bin ich?

      Und wenn nein, warum nur der Gekreuzigten so viele?

      Ich, das ist relativ.

      Ich, das ist multiple.

      Einer der vielen Götter sein zu müssen, fürchtete ich oftmals als junger Mann, der womöglich grausamste überhaupt, der des Alten Testaments, der das eine Volk empfangen und gesegnet hatte, um dieses eine gnädig auserwählte Volk andere in Ungnade gefallene Völker kollektiv ausrotten lassen zu dürfen, und zwar bis ins letzte Glied.

      Seine Nachfahren darin, tierischer als die Tiere zu sein, unter ihnen Hitler, Stalin, Mao. Pol Pott (ach, wer zählt all die Verbrecher bis heute!?) - war diese unsagbare Mit-Stumpf-und Stiel-Ausrottungsgründlichkeit auch nie ganz gelungen – humaner Mensch sei Dank ;-)!

      Ich bin nicht Stiller, die berühmten Romanfigur Max Frischs, die sich kein Bildnis von sich und anderen Menschen machen soll. Ganz im Gegenteil: mich und mein Persönlichkeitsprofil so weit wie möglich eigenständig zu erkennen - wenn auch noch dunkel wie in einem Spiegel - ist mir seit langem Lebenselixier.

      Endlich