Eckhard Weise

Reisen der Sehnenden


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im Leben „seine“ 81. Straße auf- und abzuschschreiten. Es war Winter, und es hatte geschneit. Im Abstand von 30 bis 50 Metern hatten sich Obdachlose vor den Hauswänden unter Plastikplanen platziert – zumeist Männer.

      Er passierte einen Lebensmittelladen, vor dem ein Menge offensichtlich unverkäuflicher Ware aufgehäuft wurde. Eine Gruppe von etwa einem Dutzend junger Leute, die Joggingjacken trugen mit der Aufschrift „Food for everybody“, begann damit, Salatköpfe, Bananen, Hähnchenkeulen, Garnelen u. a. in ihren großen Sporttaschen zu verstauen. Polizeifahrzeuge mit Blaulicht und Sirenengeheul näherten sich rasch den Aktivisten. Männer wie Frauen wurden im Polizeigriff in die Einsatzfahrzeuge verfrachtet - wie Schwerstverbrecher.

      Verwundert schaute sich Phil die eine oder andere Packung vom Abfall an, um das Verfallsdatum zu überprüfen. Nicht einmal stieß er auf abgelaufene Ware. Und hieß der Zugriff der Ordnungshüter etwa, dass womöglich die Händler a l l e i n i g e Besitzer ihrer Ware blieben von der Theke bis zur Müllhalde?

      Was nur was hätten Jerry Cotton und Phil Decker dazu gesagt?

      Das neue Zeitalter ohne Arbeit, von früh bis spät eingepfercht in einen goldenen Käfig, in dem es nicht einmal einen singenden Kanarienvogel gab, ödete ihn, ja kotze ihn zu zuletzt nur noch an.

      Abends verfolgte er auf seinem Laptop eher gedankenlos die Nachrichten. Nur eine einzige weckte ihn aus seinem Dauerhalbschlaf: „In England ist heute ein neues Ministerium eingerichtet worden, und zwar eines gegen die Einsamkeit.“

      5

      Am nächsten Tag hatte Phil ein Flugticket geordert nach Frankfurt und war von dort mit dem Zug nach Waldhagen gefahren, dem Bahnhof, der nur zwei Kilometer von Klein-New-York entfernt lag, der Hauptort der Großgemeinde Kirchrode mit Rathaus und kleinem Hotel.

      Er quartierte sich dort für einige Tage ein, um die üblichen bürokratischen Notwendigkeiten zu erledigen und sich nach dem Wohnungsmarkt im hiesigen New York zu erkundigen.

      Auf der Gemeindebehörde kannte ihn niemand mehr, aber wie hocherfreut war man auf dem Amt, einen alten New Yorker wieder in der ach so schönen Heimat begrüßen zu dürfen. Und gerne würde man seinem Wunsch nachkommen, ihm Exposés von zum Vermieten oder Verkauf angebotenen Wohnungen und Häusern zu unterbreiten.

      Phil hatte sich schnell entschlossen. Ein kleines altes Fachwerkhaus in der 11. Straße direkt neben der Kirche, in der er vor 55 Jahren eingesegnet worden war, hatte es ihm angetan, zumal er alles vom Keller bis zum Boden bestens renoviert und einzugsfertig vorfand.

      Das eigentliche Herz des Hauses bildetet ein großzügiger Kaminkachelofen, der sich als derart effektiv erwies, dass er mit nur wenigen Buchenscheiten die gesamte Wohnung angenehm zu erwärmen vermochte. Mit nur wenigen Möbeln aus der Region richtete er es sich behaglich ein und hörte dabei all die Musik, deren Wohlklang zu lauschen, nie wieder auf den St. Nimmerleinstag verschoben werden sollte.

      Drei Tage bewohnte er jetzt seine neue Bleibe, zumeist wie eine schnurrende Katze in das knisternde Feuer schauend, als es an der Tür klingelte. Vor ihm stand eine attraktive Frau, etwa Mitte 30 Jahre alt.

      „Guten Tag, Herr Frings. Mein Name ist Franziska Trede. Ich bin die Pastorin der Pfarrstelle hier und der Nachbargemeinde Waldhagen und möchte Sie bei uns sehr herzlich mit Brot und Salz begrüßen.“

      Hocherfreut bat er sie herein und bewirtete sie sogleich wunschgemäß mit Tee und Gebäck.

      Franziska Trede berichtet so lebendig über die Aufs und Abs in ihrer Berufslaufbahn, dass er glaubte, die eine oder andere Übereinstimmung mit seinem durchaus nicht nur unkritisch zu betrachtenden Lebensweg entdecken zu können.

      Sie war lange Jahre an der Universität als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig gewesen, viel zu lange, wie sie betonte. Sie hätte sich nach Gemeindearbeit gesehnt, und vor zwei Jahren sei ihr Wunsch weitgehend in Erfüllung getreten.

      Jetzt habe sie ein Dreiviertelstelle, die allein von der Kirche finanziert werde. Eine reduzierte Stelle auf eigenen Wunsch? wollte Phil wissen.

      „Die Kirchensteuer fließt nicht mehr so, wie vor Jahrzehnten noch, wissen Sie. Und wir haben einen guten Kompromiss gefunden, den man einen brüderlichen-schwesterlichen Glücksfall nennen könnte.

      Meine Berufstätigkeit beruht auf vier Säulen, die mir meine Lebensgrundlage auf Dauer und in hinreichendem Maße sichern hilft und mich unter die Leute bringen lässt in einer von mir nie erträumten Vielfalt der Begegnungen.

      Aber fangen wir vorne an – die erste Säule: ich arbeite als Klinikseelsorgerin im Kreiskrankenhaus.

      Säule zwei und drei wie gesagt Gemeindearbeit hier und drüben.

      Säule vier ist und bleibt für mich ein Zauberwerk. Die beiden Dorfbevölkerungen haben mit der Kirche und meiner Wenigkeit eine einvernehmliche Lösung gefunden: das Geld für Säule 4 wird zumindest zu einem Großteil aufgebracht durch Einnahmen, die gemeinsame Dorffeste erbringen, Feste und Veranstaltungen der zahlreichen Vereine, von den Sport- und Wandervereinen, über die freiwillige Feuerwehr bis hin zu den Kirmesburschen und - mädels.“

      Manchmal treffen wir uns nach dem Gottesdienst auch unten in der kleinen Kirchengrotte zu einem Weinfest. Kaum zu glauben, wie viele Leute immer auf einen Schoppen und Plausch vorbeikommen. Solche fürsorglichen Dorfgemeinschaften hatte ich vor meinem Theologiestudium und meiner Assistentenstelle an der Uni natürlich nie erlebt.“

      „Wie ist es nur möglich, aus der Not solche Tugend zu machen!“ Phil klatsche in die Hände und rief begeistert: „Welch wunderbare Win-Win-Situation!“

      „Ich lade dich“ - inzwischen war man beim Du angelangt -“sehr herzlich am kommenden Sonntag zu unserem Gottesdienst mit anschließendem Flohmarkt und Grillfest hier an der Kirche dir gegenüber ein.“

      Am nächsten Tag schickte sich der Neu-Alt-Bürger an, einen Kubikmeter Buchenholz aus einer Palette vor der Garage in Bananenkartons hinter das Haus unter das Dach der Loggia zu tragen. Nachbarn boten an zu helfen.

      Mit jüngeren gab es ein nette neue Bekanntschaft, mit älteren ein zum Teil tränenreiches Wiedersehen.

      6

      Die kleine zweistöckige Kirche aus dem frühen 18. Jahrhundert war bis auf den letzten Platz besetzt.

      Nach dem Eingangslied sprangen urplötzlich Franziska mit ihren Konfirmandinnen und Konfirmanden aus der Kulisse - und die Pfarrerin im Pippi-Langstrumpf-Kostüm – , um unter all den Bänken Pippis Lieblingssuchobjekt, dem Spunk, nachzuspüren, denn es galt, auf witzige Weise in das Thema dieses dritten Sonntagsgottesdiestes nach Trinitatis einzuleiten: Suchen-und finden-Ritual.

      In ihrer Predigt gelang es Franziska, einen spannenden Bogen von den Psalmen Davids über das Gleichnis vom verlorenen Sohn bis zu unseren heutigen Formen alltäglichen, sehnsüchtigen - vielleicht sogar bislang noch verborgenen? - Suchens und Findens zu schlagen.

      Drei auserwählte Paare dreier Generationen erzählten unaufgeregt, wonach sie in ihrem Leben gesucht und was sie mit großem Glück gefunden hatten: den richtigen Beruf, Gesundheit, zumeist aber die*den richtige*n Lebenspartner*in und fröhliche Kinder.

      Gerne hätte sich Phil dazugestellt, aber plötzlich verschlug es ihm die Stimme, als ihm bewusst wurde, dass die neuen Eindrücke von einem wiedergewonnenen Zuhause noch viel zu frisch waren, um ein Wort darüber zu verlieren. Viel Größeres war es womöglich noch, das ihn dazu veranlasste, sich einfach still und leise wie ein getretener Hund in der Bankecke zusammenzukauern: Suchen und finden, das war nicht mehr und nicht weniger sein Lebensthema – beständig durchzogen von Fremdbestimmungen, Versagen, Mutlosigkeit, schwersten Fehlentscheidungen.

      Zum Flohmarkt trug er einige filigrane Porzellanpreziosen aus dem alten Hausbestand bei sowie seine gesamte Jerry-Cotton-Sammlung – das Stück zu 10 Cent. Nach Ende der Veranstaltung war der kleine Stapel tatsächlich verschwunden.

      Das anschließende Grillfest und die große Waldwanderung am übernächsten Sonntag durch Mischwald und über Feld und Wiesen von Kirchlein zu Kirchlein gaben reichlich Gelegenheit zu weiteren Bekanntschaften