E.D.M. Völkel

Nullmenschen


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* * * * * *

      Jens Schmidt war stinksauer über die indirekte Unterstellung seiner Vorgesetzten, der Hauptkommissarin Melanie Heinzer. Das er vielleicht illoyal sei, kränkte ihn zutiefst.

      Im letzten Sommer hatte er seinen verschwunden Halbbruder Julius bei den Rockern des Lakota MC´s wiedererkannt. Dies gefiel ihr überhaupt nicht, zumal sie die Meinung vertrat, dass alle Personen aus der Szene kriminell waren. Aber dass sie nach jahrelanger Zusammenarbeit seinem Wort nicht mehr vertraute, nagte schwer am Selbstbewusstsein.

      Damals war sein erstes Gefühl, ›ich habe mich getäuscht‹, doch von diesem Tage an geisterten die alten Geschichten des Erwachsenwerdens immer wieder durch seine Gedanken.

      Langsam ließ er das kalte Wasser in die Hände laufen und schüttete es ins Gesicht. Vor wenigen Wochen hatte die Explosion des Clubhauses der Rocker sein Leben verändert. Hartnäckig kehrte diese Erinnerung regelmäßig in seine Träume zurück. Er sah die Trümmer, Steine, Metall, Glas, Holz, der halbverbrannte Bezug eines Sofas und abgerissene menschliche Körperteile.

      Der nächste Schwall Wasser landete im Gesicht. Er roch den heißen Staub, versengten Stoff gemischt mit nasser Asche, verbrannter Erde und verkohltes Fleisch. Über allem schwebte der Tod.

      ›Das Wasser ist nicht kalt genug, es spült die Erinnerung nicht fort.‹ Die zahlreichen Toten und Schwerverletzten hatten ihn bis ins Mark getroffen. Er konnte nicht anders, als ihn anzusprechen. ›Komisch in solchen grauenvollen Situationen finden sich Geschwister, ziehen sich wie Magnete an, sie können sich nicht ignorieren.‹

      Dieses Erlebnis kehrte immer und immer wieder, es war wie eine Dauerschleife in seinem Kopf und er fand den Ausschalter nicht.

      Bereits als der damals noch Fremde zum ersten Mal mit ihm sprach, hatte er die unverwechselbare Stimme wiedererkannt. Sie hatte ihn durch seine Jugend getragen und ihm Ratschläge von unschätzbarem Wert gegeben. Manches verstand er als Heranwachsender nicht, doch es erwies sich im Nachhinein als richtig. Jens hob kurz den Kopf und blickte in den Spiegel, bevor er ein weiteres Mal die Hände mit dem eiskalten Wasser füllte.

       ›Sobald ich das Bedürfnis hatte konnte ich ihn anrufen, Julius war immer für mich da. Dann, urplötzlich, hatte er von mir verlangt, sich um unsere Mutter zu kümmern und war abgetaucht. Ausgerechnet als ich in der Polizeiakademie und mitten in meiner Ausbildung steckte.‹

      Ruckartig drehte Jens den Wasserhahn zu und zerrte einige Papiertücher aus dem Wandspender. Damals war er sehr verärgert, hatte begonnen ihn zu hassen, ausgerechnet dann, als er ihn am meisten gebrauchte hatte, war er abgehauen. Einfach von der Bildfläche verschwunden und hatte ihm die ganze Verantwortung überlassen. Aggressiv knäulte er die Tücher zusammen und warf sie in den Mülleimer.

      Kurz bevor Mutter starb hat sie ihm die Wahrheit über Julius erzählt, der sich heimlich all die Jahre um sie und ihn gekümmert hatte. Dass er den Schlägertrupp von drei Mann aus der Wohnung vertrieben und so die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Alles, um sie beide zu schützen. Bevor Mutter die Hintergründe des Vorfalls erzählen konnte, verstarb sie. Erst aus den Papieren im Nachlass erfuhr er mehr von seinem Bruder und dessen Vater.

      Nachdenklich blickte er in den Spiegel und stützte sich auf dem Waschbecken ab. Die Hartnäckigkeit, mit der seine Chefin Melanie versuchte, ihn von Julius Kriminalität zu überzeugen, hatte ihm den Rest gegeben. So konnte und wollte er nicht weitermachen. Er brauchte Abstand und musste nachdenken. Vielleicht war es an der Zeit seine Zukunft neu zu gestalten. Die Vorstellung bis zum Ende aller Zeiten Verbrecher, Mörder und andere kriminelle Individuen zu jagen, hatte ihm schon seit Kindertagen gut gefallen. In der Realität sah es leider ganz anders aus. Allzu oft waren ihnen die Hände gebunden. Der kleinste Fehler genügte, um die Arbeit von Wochen und Monaten durch einen herbeigepfiffenen Anwalt zerrissen und in den Dreck getreten zu bekommen. Verflucht, diese schmierigen Winkeladvokaten, kannten jedes Schlupfloch und uns sind die Hände gebunden. Der eintretende Kollege holte ihn aus den Gedanken, »Morgen«, grüßte Jens kurz und strich sich mit den Fingern durch das blonde, teilweise widerborstig abstehende Haar.

      ›Ich reiche Urlaub ein, muss dringend mal hier raus‹, nahm der Gedanke Form an. ›Als erstes zum Friseur und runter mit der Wolle bevor es richtig kalt wird. Dann pack ich meine neuen Laufschuhe aus und probiere was sie draufhaben‹, dachte er, ›Wetter hin, Wetter her, völlig egal mein Marathontraining ist viel zu kurz gekommen.‹

      Ruckartig wandte er sich um und lief zielstrebig ins Büro. Die Kommissarin Melanie Heinzer hob kurz den Kopf, ihr langer, schwarzer, geflochtener Zopf hing über die linke Schulter und reichte fast bis zur Taille.

      »Gut, dass Du kommst, es gibt Arbeit«, sie schob ihm eine Akte zu. »Es wurde eine Frauenleiche nahe dem Bahnübergang im Gewerbegebiet Liederbach gefunden. Die Kollegen warten schon auf uns, los komm…«

      »Sie warten nicht auf mich«, entgegnete er härter als beabsichtigt.

      Ungläubig richtete sie sich auf und runzelte fragend die Stirn.

      »Ich mach` Urlaub. Jetzt sofort. Wenn`s Dir nicht passt, schwärz mich an, schmeiß mich raus, ist mir egal.« Er griff nach seiner Jacke und zog den Autoschlüssel aus der Tasche.

      »Jens!« Misstrauisch starrte sie ihn an, »was ist passiert? Kann ich Dir helfen?«

      ›Verdammt noch mal, ich Idiot hab ihr von meinem Verdacht, es sei jemand in der Wohnung gewesen, erzählt‹, schoss es ihm durch den Kopf. »Nix, ich muss endlich mal raus aus dieser Tretmühle. Mich ausklinken und neu auftanken«, wiegelte er rasch ab. ›Sobald die Tür hinter mir zugeht, lässt sie ihn durch´s System laufen.‹

      Argwöhnisch kniff die Kommissarin ihre fast schwarzen, leicht mandelförmigen Augen zusammen und setzte zum Sprechen an. Rasch verkniff sie sich aber gerade noch ihren Kommentar. Die Vermutung, er träfe sich mit seinem Bruder, brannte ihr auf der Zunge, doch sie hatte ihm versprochen sich erst einmal rauszuhalten. Abwartend stand Jens mit beiden Händen in den Taschen vor ihr.

      ›Wenn ich nicht zustimme, geht er trotzdem, auch wenn dies eine disziplinarische Maßnahme nach sich zieht. Es hat keinen Zweck, er muss sich zurechtfinden. Je mehr ich versuche ihn zu stoppen, umso hartnäckiger wird er sein Ziel verfolgen.‹ »Also gut«, nickte sie zustimmend, »ich gebe es weiter. Wie lange?«

      »Zwei Wochen«, schoss es sofort aus seinem Mund.

      »Na schön, erhole Dich gut spann mal aus und lass was von Dir hören. Falls du reden willst, du kannst mich immer erreichen«, gab sie ihm mit auf den Weg.

      * * * * * * *

      Der Industriesauger dröhnte und beseitigte die letzte Staub- und Schmutzschicht in dem großzügigen Raum gleich neben der Eingangshalle. Der hohe, oval geschwungene Treppenaufgang führte in den ersten Stock und Dachboden. Weit oben leuchteten die Lampenrosette von der stuckverzierten elfenbeinfarbenen Decke, auf die hellgrauen Bodenfliesen. Jeder war froh, dank Bertis Beharrlichkeit seinen Traum zu verwirklichen, so rasch ein neues Clubhaus für den MC und sich selbst gefunden zu haben. Die Blauzeder Villa am Ortsausgang von Königstein, stand schon sehr lange leer und sollte unerwartet verkauft werden. Die Erben der verstorbenen Besitzer hatten kein Interesse mehr an der weiteren Erhaltung des alten Gebäudes. Berti kannte das Haus als Kind war er oft mit seinem Großvater, der als Jäger in dieser Familie das Wild verkaufte, hier ein- und ausgegangen. In genau diesem Haus zu leben, war sein Ziel. Er hatte über Jahre in einer winzigen Absteige gewohnt und jeden Cent zusammengekratzt. Endlich war er in der Lage gewesen die Anzahlung zu leisten, um sich das Vorkaufsrecht eintragen zu lassen. Dass die Brüder des MC´s sein Angebot sofort annahmen, erfüllte ihn mit großem Stolz.

      »Prost«, rief Hugo von der fertig gezimmerten Theke herüber, trank genüsslich das Bier aus und zapfte sofort die nächsten.

      Pünktlich auf die Minute trafen sich alle Mitglieder des Lakotas MC´s zum Meeting in dem großen Raum. Es war ein ungewohntes Gefühl. Das Wenige, was aus dem Clubhaus übrig geblieben war, hatte bereits einen Platz erhalten und die Bilder der Verstorbenen reihten sich aneinander.