Unter dem Titel »Auch wir waren in Ponar - Bekenntnisse einer Wilnaerin« erschien in Israel eine hebräische Ausgabe des gleichen Urtextes von J. Schapiro-Rosenzweig
©Beit Lohamei Haghetaot
Mit freundlicher Genehmigung für den deutschsprachigen Raum
© 2001
e-book-Ausgabe 2020
RHEIN-MOSEL-VERLAG
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ISBN 978-3-89801-905-7
Ausstattung: Stefanie Thur
Umschlagzeichnung: Samuel Bak
Jetta Schapiro-Rosenzweig
Sag niemals, das ist dein letzter Weg
Flucht aus Ponar – Eine Mutter und ihre kleine Tochter kämpfen ums Überleben
Aus dem Jiddischen von Tamar Dreifuß
Rhein-Mosel-Verlag
Dieses Buch widme ich meiner Mutter selig und meinen beiden Kindern Iris und Raphael.
Vorwort
Viele Stunden habe ich mit der Übersetzung dieses Buches meiner Mutter »Auch wir waren in Ponar« verbracht. Die ganze Zeit habe ich die Gestalt meiner Mutter vor mir gesehen. Eine zierliche blonde Frau mit blauen Augen. Eine »arische« Frau. Ihr Aussehen und ihre Russischkenntnisse standen ihr bei. Ihr Lebenswille und ihre eiserne Kraft haben dazu beigetragen, dass wir trotz allem am Leben geblieben sind. Ich bin ihr zu Dank verpflichtet. Dass ich heute ein Leben in einer intakten Familie genießen kann, ist nur Dank ihres Mutes und Durchsetzungsvermögens möglich geworden.
Es bestand eine sehr enge Beziehung zwischen uns. Obwohl ich nach meiner Heirat Israel verließ, wurde diese Beziehung nicht unterbrochen. Wir haben uns fast täglich geschrieben, sind öfter zwischen Deutschland und Israel hin und her geflogen und haben längere Zeit miteinander verbracht. Ich war mehr in Israel als sie in Deutschland. Der Besuch hier war immer mit Erinnerungen verbunden, die sie möglichst vermeiden wollte. Ihre Erlebnisse im Krieg haben tiefe Spuren hinterlassen. Nicht nur seelische, auch körperliche: Herz, Magen, Rheuma. Dies und noch mehr plagte sie bis an ihr Lebensende.
1985 erhielt ich einen Anruf von meiner Tante, dass beide Eltern sich im Krankenhaus befänden. Von einem Tag zum anderen buchte ich einen Flug nach Israel. Ich sah ein, dass die einzige Lösung darin bestand, sie zu mir zu nehmen und hier zu pflegen.
Es fiel ihnen nicht leicht, Israel zu verlassen, doch es gab keine Alternative. Ich habe meine Mutter fast drei Jahre gepflegt. Zum Schluss siegte die Krankheit über sie und sie verstarb in meinen Armen am 30. Oktober 1987. Mein Stiefvater lebte danach noch 10 Jahre bei uns. 1997 ist er mit 95 Jahren verstorben. So ging bei uns eine Epoche zu Ende.
Ich bin froh, dass ich mit meiner Mutter wenigstens die letzten Jahre verbringen konnte. Das Leben hier in Deutschland hat sie nicht mehr sehr gestört. Sie war glücklich, mit ihrer Tochter, ihren Enkelkindern und ihrem Schwiegersohn zusammen zu sein.
Ich bin froh, dass sie dieses Buch geschrieben hat und dass ich es übersetzen durfte. So wird sie bei vielen in Erinnerung bleiben und vielleicht dazu beitragen, dass sich diese Geschehnisse nicht wiederholen.
Tamar Dreifuß
Jetta Schapiro-Rosenzweig
Meine Erinnerungen, die ich schildern möchte, umfassen die Zeit von 1941 bis 1944. Ich möchte, dass meine Generation und auch die Nachfahren diese Überlebens-Erinnerungen kennenlernen. Sie dürfen nicht in Vergessenheit geraten.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs war meine Heimatstadt Wilna zerstört. Es war nicht mehr mein Wilna – das jüdische Wilna gab es nicht mehr; auch die Familie von damals gab es nicht mehr. Meine Tochter Tamar und mich hatte das Schicksal übrig gelassen. Zusammen sind wir durch die Hölle gegangen und zusammen haben wir überlebt. Zwar fanden wir meine Schwester Mizia und ihren Sohn Samek bei unserer Tante Jannina – von ihr werde ich viel zu erzählen haben – doch wir erfuhren, dass Jonas, der Mann von Mizia, kurz vor der Befreiung von der Gestapo hingerichtet worden war. Mir wurde zugetragen, dass mein Mann Jascha in einem der deutschen Konzentrationslager ums Leben gekommen ist.
Wenig später gingen wir nach Polen. Dort habe ich Sigmund Rosenzweig kennengelernt. Er verlor während des Krieges seine Frau, seinen Sohn und seine Tochter. In ihm fand Tamar einen liebevollen Vater. Nach kurzer Zeit heirateten wir, und gemeinsam mit meiner Schwester und ihrem Sohn zogen wir nach Israel.
Ich will im folgenden versuchen, einiges von den vielen grauenvollen Geschehnissen jener Zeit zu schildern. Nur ein kleiner Teil davon kann hier zur Sprache kommen, es ist nur ein winziges Stück des Ganzen, trotzdem maßgebend für diese Epoche.
Der Anfang: Von Wilna nach Ponar 1941
Meine Heimat war Wilna, eine polnische Stadt nahe der litauischen Grenze. Wilna ist auch bekannt unter dem Namen »Jerusalem Delita«. In unserem Wilna erhielten sich viele alltägliche jüdische Gebräuche und volkstümliche Werte. Nicht nur die Elite konnte sich mit ihrem Namen rühmen, auch der einfache Mensch konnte sich dort entfalten. Das besondere an Wilna spiegelte sich in den Gesprächen zwischen den Holzfällern auf dem Holzmarkt, auf dem Schulhof in der Judengasse, in einer der Synagogen, es war das saftige Wilnaer Jiddisch.
1941 war Litauen schon von der Sowjetunion eingenommen worden und Deutschland hatte Polen schon ganz erobert. In diesem Jahr brach der Krieg zwischen Deutschland und der Sowjetunion aus.
Jetzt, da ich den Versuch unternehme zu schildern, was wir erlebt haben, sowohl in Wilna, unserer Geburtsstadt, als auch in Ponar, während unserer Wanderungen in der Fremde, erscheint es sogar für mich, obwohl ich alles tatsächlich erlebt habe, schwer zu glauben, dass es in Wirklichkeit geschah.
Beim Erzählen wird sich hier und da ein Bild einschleichen von den guten Zeiten in der schönen Landschaft rund um Wilna, mit ihrem Hügeln ringsherum, dem Wilia-Fluss, den Brücken und Stränden. Nicht zu vergessen die Wangerskastraße neben dem Bäumemarkt (Holzmarkt). Dort habe ich eine glückliche Jugend in einem angesehenen jüdischen Haus verbracht.
Die Eigenart des Hauses bestimmten Vater und Mutter, jeder eine Persönlichkeit für sich. Besonders stark ist die Erinnerung an das Jahr 1940, an die Feste Purim und Pessach1. Sie verkörpern für uns eine Epoche, die leider zu Ende ging. Das Purimfest (ähnlich dem Karneval) war für uns etwas Besonderes. Die Geburtstage sowohl meiner Schwester Mizia als auch meines Bruders Jerachmiel, der damals schon in Palästina lebte, der Hochzeitstag der Eltern und der Geburtstag meiner Tochter fielen alle auf diesen Zeitpunkt. Der Ursprung des Festes – Hamans Niedergang und die Rettung Mordechais und des Jüdischen Volkes in Persien – dieses Wunder aus der Ester-Rolle konnte ein historisches Zeichen mit hoffnungsvoller Bedeutung für die Zukunft sein.
Dies alles geschah, als Wilna von