nach war er Jude, aber er war mit einer Christin verheiratet. Er pflegte die jüdischen Familien zu besuchen und hatte uns dabei nicht ausgeschlossen. Die Wahrheit ist, dass wir davon nicht begeistert waren. Die ganze Zeit führten die Russen Kolonnen von Häftlingen durch Ponar nach Russland. Eine Kolonne hatte sich bei uns auf dem Bahnhof aufgehalten, und wir eilten dorthin, um den Gefangenen zu helfen. Sie baten um Wasser, und wir reichten es ihnen. Das hatte dem Angestellten der NKWD nicht gefallen. Er fand, wir sollten den »Kulaken« nicht helfen. Diese Leute wurden zur Zwangsarbeit nach Russland transportiert, und wir waren seit diesem Zwischenfall überzeugt, dass er auch bei uns nach »Kulaken« suchte, um sie zu verschleppen.
An dem Sonntag, als der Krieg anfing, kam er zu uns und bot uns an, mit ihm zu fliehen. Er sagte, dass ihm ein Auto zur Verfügung stünde, wir sollten keine Zeit verlieren, schnell unsere Sachen packen und mit ihm gehen. Wir bedankten uns bei ihm, doch auf seinen Vorschlag gingen wir nicht ein. Damals konnten wir uns nicht vorstellen, dass man alles zurücklassen kann, dass wir unsere Familie, die sich in Wilna befand, zurücklassen könnten, ohne uns von ihnen zu verabschieden. Mit diesem Gedanken konnten wir uns nicht abfinden.
In Ponar wohnten noch zwei andere jüdische Familien. Familie Mandelbaum – ein reicher Kaufmann aus Wilna mit Frau und Tochter – und ein zweites Ehepaar, etwa fünfzig Jahre alt, aus Litauen: Familie Panis. Sie zitterten vor Angst, denn sie wussten nicht, wo sie ihr Gold und ihren Schmuck verstecken sollten. Bald zog das Ehepaar Panis zu uns. Am dritten Tag des Krieges hörten wir vom Wald, der hinter unserem Haus lag, Maschinengewehrsalven. Doch wir wussten nicht, was es zu bedeuten hatte. Die Nachbarn erzählten uns, dass dort Juden hingerichtet würden. Aber das konnten wir nicht glauben, wir dachten, dass es antisemitische Äußerungen seien.
Das tägliche Leben hatte sich wieder etwas normalisiert; Brot konnte man schon wieder kaufen. Ich traute mich auf die Straße und reihte mich in die Warteschlange ein, um einen Laib Brot zu bekommen. Zu meinem Entsetzen sah ich ganze Kolonnen von Menschen, ein paar Hundert an der Zahl, die an uns vorbeigetrieben wurden. Vorne gingen die Jungen, die noch imstande waren zu gehen, hinter ihnen Alte, Behinderte und Kranke. Ich versuchte in den Menschenkolonnen Leute zu finden, die ich vielleicht kannte, doch meine Augen waren so blind von Tränen, dass ich niemand erkennen konnte. Jetzt wusste ich, dass meine Nachbarn die Wahrheit gesprochen hatten. Ich eilte nach Hause, zog die Rollläden herunter und schrie Joschka, meinem Mann, zu: »Verstecke dich, man schießt Juden nieder!«
Gegenüber unseres Hauses stand eine Villa, die von Deutschen besetzt war. Wir konnten sehen, wie man dort Menschen jüdischer Abstammung hineinführte. Jeder bekam eine Schaufel in die Hand, und zwei Polizisten trieben sie auf den Wald zu. Eine viertel Stunde später hörte man schon Schüsse. Die Kinder kletterten auf die Bäume, damit sie besser sehen konnten. Man erzählte uns, dass dort von etwa zwanzig Menschen Gräber geschaufelt würden. Sie schaufelten ihr eigenes Grab. Wir zählten die Schusssalven und waren schon bei der 15. Salve angekommen. Das bedeutete, dass bereits 300 Menschen dort niedergeschossen worden waren.
Vier Nächte waren wir mit dem Eingraben und Verstecken von wertvollen Sachen beschäftigt, als die Nachricht durchkam, dass wir Schmuck, Geld, Gold, Rundfunkgeräte, Fahrräder und Proviant bei der deutschen Kommandantur abgeben müssten.
Ganze Nächte haben wir gegraben, um unsere wertvollen Sachen zu verstecken, doch allmählich wurde uns bewusst, dass das überhaupt nicht so wichtig war. Nun kam es nur noch darauf an, überhaupt am Leben zu bleiben. Wir mussten erkennen, dass unschuldige Menschen ums Leben gebracht wurden, deren einziges Vergehen es war, Jude zu sein. Mit diesem Gedanken zu leben war sehr schwer. Wir trösteten uns damit, dass alles ein böser Traum sei, der bald zu Ende gehen würde.
Aber der Wahrheit mussten wir doch ins Auge sehen, und uns wurde klar, dass die Gräueltaten im Wald bekannt werden mussten, damit die Juden in Wilna erfuhren, dass sie nicht zur Arbeit geführt wurden, sondern in den Tod.
Uns war es zunächst wichtig, für die Männer, Jascha und Herrn Panis, ein Versteck zu schaffen. Wir stellten eine große Kiste in den Keller und deckten sie von allen Seiten mit Kartoffeln zu. Für die Atemluft gab es einen großen Behälter, von dem ein Schlauch an einer versteckten Stelle herausführte. So waren die beiden geschützt und konnten atmen.
Eine ganze Kompanie Litauer kam ins Dorf. Sie standen unter dem Befehl eines Mannes namens Kosiok. Schon seinem Gesicht sah man den Verbrecher an. Die Aufgabe der Litauer war es, die Gräber im Wald mit Sand zuzuschütten und die Kleidung der Toten zu sammeln und mitzunehmen. Abend für Abend luden sie Kleidungsstücke auf einen Wagen und fuhren diese an einen unbekannten Ort. Danach besoffen sie sich jede Nacht, man hörte ihre Stimmen überall im Dorf. Sogar die Gojim – die Nichtjuden – hatten Angst vor Kosiok und seinen Leuten. Jeden Tag kam Kosiok und fragte nach meinem Mann. Ich erzählte ihm, dass er in Wilna arbeitet. Er ging überall durchs Haus, schaute sich um und nahm sich, was ihm gefiel. Er erzählte mir, dass er vorhätte zu heiraten, und zwar das schönste Mädchen im Dorf. Er wünschte, dass ich das Brautkleid für sie herrichtete und auch Schuhe und Ohrringe herbeischaffte. Wenn das nicht geschehe, wollte er meinen Mann und Herrn Panis ausfindig machen und meinte, ich könnte mir dann denken, was mit ihnen passieren würde. Schlecht und bitter war mir zumute, mein Herz hämmerte – was konnte ich nur tun? Wo fand ich ein Kleid für die Braut? Mit Mühe und Not konnte ich ein Kleid auftreiben, allerdings nicht in Weiß, auch Schuhe und Ohrringe fanden sich.
Es war Schabbes; ich saß und wartete wie gelähmt. Dann trug ich den Männern das Essen in den Keller. Ich riet ihnen, sich ein anderes Versteck zu suchen, ich hatte das Gefühl, dass Kosiok über ihr Versteck Bescheid wusste. Ich wartete, und es gingen Stunden über Stunden vorrüber und Kosiok kam nicht. Auf einmal kam unsere Vermieterin gelaufen und schrie auf polnisch: »Kara Boska! (Gottes Strafe) Die schöne Braut ist heute nacht im Bach ertrunken! Sie ist mit ihren Freundinnen zum Ufer gegangen und da ist es passiert.«
Es schien fast wie ein Wunder, da der Bach gar nicht so tief war. Wir fanden, dass dies ein gutes Omen war, und hofften, dass Kosiok uns unter diesen Umständen ein paar Tage in Ruhe lassen würde. Wie eine Königin wurde die Braut bestattet.
Ich hatte mich inzwischen an das Unglaubliche unserer Lage gewöhnt und versuchte, mich in ihr zurechtzufinden. Ich beschloss, mich nach Wilna zu wagen und mich nach meiner Familie dort umzusehen. Am nächsten Morgen stand ich ganz früh auf. Um mich so unkenntlich wie möglich zu machen, band ich mein Haar mit einem Kopftuch zusammen und machte mich auf den Weg. Von Ponar nach Wilna sind es etwa zehn Kilometer. Die Straßen waren voller deutscher Soldaten.