sich kaum zurückhalten. Opa war mit dem Ritual beschäftigt und schaute gar nicht in ihre Richtung. Auf einmal hörten wir, wie unser Gast bitterlich weinte. Opa wandte sich ihr zu und fragte: »Warum weinen Sie denn?«
Da stand sie plötzlich auf, kniete vor ihm nieder und sagte auf polnisch immer wieder: »Vater, verzeihe mir!« Ihre Muttersprache Jiddisch hat sie inzwischen vergessen.
Opa war wie versteinert. Er hatte Tränen in den Augen, legte seine Hände auf ihren Kopf und sagte: »Mein Kind, ich verzeihe Dir! Alles das, was geschehen ist, war nicht deine Schuld. Gott wird Dir verzeihen, ich habe es schon getan. Das war Schicksal. Dich trifft keine Schuld. Böse Menschen haben das auf ihrem Gewissen. Du warst damals noch ein Kind.«
Jetzt hatten wir alles begriffen, und von diesem Moment an war die Verbindung zwischen uns und Jannina wieder hergestellt. Sie besuchte uns dann noch dreimal; beim dritten Mal war unser Opa nicht mehr am Leben, er starb im Alter von 90 Jahren. Sein Tod hat uns sehr mitgenommen. Jannina beteiligte sich an der Errichtung seines Grabsteins.
1939 brach der Krieg aus, und1940 übergaben die Russen Wilna den Litauern. Damals verkaufte Jannina ihr Haus in Kowna und übersiedelte nach Wilna. Dort wohnte sie mit ihrer Familie in der Schwurzinaistraße. Ihr einziger Wunsch war nun, in der Nähe ihrer Familie zu sein.
Eines Tages kam sie nach Ponar und besuchte uns. Sie bat uns, unsere Tochter Tamar in ihre Obhut zu geben. Sie meinte, dass wir es ohne das kleine Mädchen leichter haben würden davonzukommen.
Um es uns leichter zu machen, erzählte sie von ihren eigenen Schicksalsschlägen, vor allem, wie sie ihre drei Söhne verloren hatte. Es fiel uns sehr schwer, eine Entscheidung zu treffen; wir glaubten, dass wir uns nicht von unserem Kind trennen könnten, aber der Verstand sagte uns, dass Tante Jannina recht hatte. Sie nahm Tamar mit. Am nächsten Tag schickte sie eine Kutsche, um Tamars restliche Sachen abzuholen. Wir versuchten unserer Tochter einzuprägen, dass sie jetzt den Namen Teresa hatte und dass ihre Mutter jetzt Jadwiga und ihr Vater Joseph Scharwinski hießen.
Fluchtversuche
Nach ein paar Tagen kam unsere Nachbarin zu uns. Sie erzählte, dass wir noch in dieser Nacht abgeholt werden sollten; sie hatte es aus einer zuverlässigen Quelle. Auch die Juden aus Landarowa sollten abgeholt und wir sollten alle hingerichtet werden, da angeblich im Ghetto kein Platz mehr für uns sei.
Die Familie Panis war bei uns. Wir bedankten uns bei den Nachbarn und baten sie, auch die Familie Mandelbaum zu benachrichtigen. Wohin sollten wir gehen? Wir waren verzweifelt. Unsere Vermieterin richtete für uns zwei Rucksäcke mit Proviant und warmen Decken her; auch Panis‘ sollten das gleiche tun. Sie erklärte uns, dass hinter dem »Hinrichtungswald« ein weiteres Waldgebiet läge, in dem ein Förster wohne, den sie kenne. Zu ihm könnten wir gehen. Wenn wir ihn mit Wertsachen bestechen könnten, würde er uns behilflich sein. Sie war bereit, uns den Weg zu zeigen. Einzeln gingen wir hintereinander her. Die Männer trugen die Rucksäcke. Es nieselte und die Straße war finster, wir konnten nur eben das Kopftuch der Nachbarin erkennen. Wir mussten den Bahnhof von Ponar überqueren, schlichen am Haus des Todeskommandos vorbei und auch am Haus des deutschen Befehlshabers. Es war ein großes Risiko, aber der Wille zu überleben besiegte die Angst. Der Regen wurde stärker. Es waren keine Leute auf der Straße. Seit zwei Stunden waren wir unterwegs – es kam uns vor wie eine Ewigkeit.
Am Eingang zum Wald verließ uns Frau Kaschiozowa. Es sollten noch etwa fünf Kilometer bis zum Haus des Försters sein. Ohne einen Laut verabschiedeten wir uns und gingen weiter. Es ging sehr langsam voran, und wir beschlossen, uns einen Rastplatz zu suchen und bis zum Morgen zu warten. Wir fanden einen einigermaßen trockenen Platz und legten uns dicht aneinander, zugedeckt mit Decken warteten wir bis zum Morgengrauen. Endlich wurde es hell. Wir hörten Stimmen und es wurde uns klar, dass wir immer noch ganz in der Nähe unseres Wohnortes waren. Wir mussten einsehen, dass wir uns verlaufen hatten. Wir versuchten nun, tiefer in den Wald hineinzugehen – kein Haus war weit und breit zu sehen. Wir hatten schließlich Durst und fanden in unseren Rucksäcken sogar Wasser. Auch eine Schaufel hatte uns Frau Kaschiozowa in den Rucksack gelegt. Vor einem Hügel fingen die Männer an zu graben, damit wir Schutz vor Regen und Sturm fänden. Danach konnten wir uns etwas vor dem Wetter schützen. Proviant hatten wir noch für drei Tage.
Am dritten Tag sahen wir ein, dass wir so nicht weiter existieren konnten. Meinem Mann fiel ein, dass neben unserem Haus ein Rohbau stand, dessen Tür- und Fensteröffnungen mit Brettern vernagelt waren. Dort wären wir, so sagte er, besser vor dem Wetter geschützt und könnten uns nachts in unser Haus schleichen und uns mit Essen versorgen. Auch hofften wir auf Hilfe von Frau Kaschiozowa.
Es dauerte 24 Stunden, bis wir wieder in Ponar ankamen, da wir uns nur nachts bewegen konnten. Wir hatten die Idee, ich sollte zu Tante Jannina gehen, die würde für meinen Mann ein besseres Versteck finden. In der Nacht könnte ich ihn aus dem Haus schaffen. Die anderen hatten auch einen Plan: für Geld und Schmuck sollten die Nachbarn ein Versteck für sie finden.
Allmählich war uns alles gleichgültig. Die Nacht war sehr klar, aber wir gingen trotzdem – wir hatten keine Wahl. Endlich kamen wir an, wir zogen ein paar Bretter zur Seite und waren endlich in dem leeren Haus, wo wir bis zum Morgen blieben. Früh am Morgen gegen 6 Uhr ging ich zur Nachbarin. Sie erschrak sehr, als sie mich sah.
»Lauft weg, nach euch wird gefahndet! Heute Nacht sind welche gekommen und haben nach euch gefragt. Unser Haus haben sie auch beschlagnahmt und sie beschuldigen uns, euch versteckt zu halten.«
Ich erzählte ihr, dass wir im Haus nebenan seien, und dass ich nach Wilna zu meiner Tante gehen wollte, um sie zu bitten, uns ein Versteck zu verschaffen. Ich bat sie, bis zu meiner Rückkehr auf das Haus zu achten. Sie hatte Mitleid mit mir; sie gab mir ein Glas Milch und versprach, nach Kräften zu helfen. Es dürfte nur nicht zu lange dauern, damit ihre Familie nicht in Gefahr käme.
Im Kloster ist kein Platz für Männer
Ich zog ein Kopftuch an und machte mich auf den Weg nach Wilna. Der Weg zog sich in die Länge. Ich hatte Angst vor jedem, der mir begegnete, Angst, dass man mich als Jüdin erkannte. Ich ging zur Wohnung der Tante und hatte wieder Angst, dass ich meiner Tochter begegnen würde und, dass wir uns bei der Begegnung nicht beherrschen könnten.
Zu meinem großen Glück kam die Tante gerade aus dem Haus. Sie erschrak, als sie mich sah, und bat mich, draußen zu warten. Sie ging ins Haus zurück und brachte zuerst meine Tochter zur Nachbarin, damit wir uns auf keinen Fall begegneten.
Im Haus erzählte ich Jannina zuerst, was wir alles durchgemacht