und Jannina sprach mir gut zu. Sie wollte versuchen, die Klosterfrauen zu überreden, dass Jascha bei mir bleiben dürfe. Auch Mizias Ehemann hatte darum gebeten, mit ins Kloster kommen zu dürfen. Aber im Kloster gab es keinen Platz für Männer. Trotzdem hoffte Jannina, dass die gutherzigen Nonnen ihr helfen würden, für die Männer auch eine Bleibe zu schaffen. Am Abend mietete Jannina eine Kutsche und wir fuhren zum Kloster, das sich in der Wilnaer Straße befand. Wir betraten zuerst die Kirche. Meine Tante wies mich an, niederzuknien. Sie selbst verschwand in den dunklen Gängen. Ich blieb allein zurück. Schon schmerzten meine Knie vom langen knien, da berührte mich Jannina an der Schulter. Mühsam erhob ich mich und trat aus der Kirche in die Ignazgastraße. Vor einem schweren Eisentor läutete Jannina an einem Eisenkreuz, das neben dem Tor hing. Eine Glocke ertönte im Inneren, das Tor öffnete sich und eine Nonne stand uns gegenüber, ganz schwarz gekleidet, nur mit einem weißen Schal über dem Kopf. Sie nahm meine Hand und führte mich, während Jannina zurückblieb. Wir durchquerten viele Gänge: ein Gang, ein zweiter, dritter und vierter; Gänge ohne Ende, lang und dunkel. Mir kam es vor, als ob ich nie wieder aus diesem Labyrinth herausfinden würde. Dann standen wir vor einer Tür, sie öffnete sich und da stand Mizia vor mir. Wir umfassten uns und weinten zusammen; ich merkte nicht einmal, dass wir nicht allein bei-einander waren. Mizias Sohn schlief gerade. Das war im September 1941.
Meine Schwester erzählte mir, dass sie sich im Ghetto von unserer Mutter getrennt hatte. Sie hatte die Mutter gedrängt und angefleht, mit ihr zu kommen, aber die Mutter hatte geantwortet: »Ihr Kinder seid noch jung und müsst auch für eure Kinder sorgen und jeden Weg zur Rettung versuchen. Ich selbst will nicht weg, ich will mit eurem Vater zusammenbleiben.«
Nun verstand ich, was das bedeutete: unser guter, lieber Vater war nicht mehr am Leben. Nur wenige Zeit danach ist auch unsere Mutter gestorben.
Jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, erhebt sich wieder vor mir die Gestalt meiner lieben, barmherzigen und klugen Mutter, deren Seele aus den Vernichtungswäldern Ponars zu der unseres Vaters aufstieg. So zu sterben hatte sie sich in den guten Jahren vorher nicht vorstellen können.
Wir weinten die ganze Nacht. Schließlich versiegten unsere Tränen. Am Morgen kamen zwei Nonnen zu uns herein. Die ältere war die Oberin oder Klostermutter, die andere ihre jüngere Schwester, sie war sehr hübsch. Ihr Name war Schwester Lisa. Sie brachten uns Frühstück und wollten von den Ereignissen in Ponar hören. Wie sie uns berichteten, wurden neuerdings auch viele christliche Geistliche nach Ponar zur Zwangsarbeit herangezogen. Sie wiesen uns an, dass wir uns, außer dem Gang zur Toilette, möglichst nur in unserem Versteck aufhalten und dass wir auch die Nähe der Fenster meiden sollten. Nur vier Schwestern wussten von unserer Existenz. Das waren die Oberin Matuschka, Schwester Lucia, Schwester Benedikta und Schwester Malvina, die vom Juden- zum Christentum übergetreten war und nun schon seit vierzig Jahren im Kloster lebte. Ich erzählte ihnen von meinem Mann, der sich immer noch in dem leeren Haus in Ponar inmitten von Mördern verstecken musste. Die Schwestern hörten mit Tränen in den Augen zu und verließen leise das Zimmer.
Mittag- und Abendessen brachte uns Schwester Benedikta. Am nächsten Morgen beim Frühstück sagte ich Schwester Benedikta, dass ich leider nicht bleiben könne. Ich bedankte mich für die herzliche Aufnahme im Kloster. Da mein Mann in so großer Gefahr sei, müsste ich zu ihm zurück. Ich hatte meine Schwester und ihren Sohn gesehen, vom Tode meines Vaters erfahren und jetzt müsste ich zurück. Ich konnte nicht dort schlafen und essen, während mein Mann Hunger litt und sich verstecken musste. Wenn wir sterben müssten, dann wollten wir zusammen sein.
In der Mittagszeit kamen Matuschka und Schwester Lucia und überbrachten eine frohe Nachricht. Es war beschlossen worden, dass unsere Männer auch ins Kloster gebracht werden sollten. Voller Freude küssten wir den Schwestern die Hände.
Nun war zu überlegen, wie das zu bewerkstelligen war. Da wusste meine Schwester Rat. Sie hatte einen Nachbarn, einen frommen Christen, der uns behilflich sein konnte. Er wollte mit Tante Jannina nach Ponar fahren. Sein Name war Wladek.
Jannina brachte ihn zu uns, und wir machten gemeinsam Pläne, wie man die Männer ins Kloster bringen könnte. Herr Wladek sollte am Abend mit dem Fahrrad nach Ponar fahren und bei Frau Kaschiozowa übernachten. Früh am Morgen sollten sie meinen Mann als Bahnarbeiter verkleiden und mit dem Fahrrad ins Kloster bringen. Nachts, während der Sperrstunde, durfte man nicht fahren.
Alles hatte sehr gut geklappt – am nächsten Morgen um 11 Uhr war mein Mann bei mir im Kloster. Unsere Begegnung war für alle so rührend, dass sogar die Schwestern weinten.
Die nächste, viel schwierigere Aufgabe war es, den Mann meiner Schwester herzubringen. Das war eine große Herausforderung. Er arbeitete in einem Werk unter Aufsicht der deutschen Polizei. Dort wurden Verbrennungsstoffe hergestellt.
Er bekam einen Brief von Wladek, darin stand, er solle sich nach der Arbeit im Feld verstecken und nachts versuchen, einen bestimmten Ort im Wald zu erreichen, wo Wladek auf ihn warten wollte. Am nächsten Morgen in der Frühe wollten sie gemeinsam versuchen, das Kloster zu erreichen. Das alles war ein sehr risikoreiches Unternehmen, aber zum Glück ging alles gut. Für einen Mann mit schwarzem Vollbart war es nicht einfach, ins Kloster zu gelangen. Die Stunden, die wir wartend verbrachten, zogen sich sehr schwer hin – jede Minute kam uns wie eine Ewigkeit vor. Damals dachten wir, dass es nicht schlimmer werden könnte, aber es kamen Tage über uns, wo wir an diese Klosterzeit wehmütig zurückdachten.
Wir wohnten zu fünf Personen in einem Zimmer mit zwei Fenstern, die mit Vorhängen verhüllt waren. Zwei eiserne Betten standen darin. Es war ein bisschen wie eine Kaserne, aber für uns war es ein Paradies des Friedens. In der Diele befand sich eine Toilette mit Duschgelegenheit, noch aus der Zeit der Benediktinerschule. Der Winter 1941/42 war sehr kalt, und die Toilette fror häufig zu. Ich hatte das Amt des Installateurs, kochte täglich Wasser auf und goss es in die Toilette, so dass man sie immer benutzen konnte. Überhaupt hatten wir alle unsere Beschäftigungen. Mein Mann und mein Schwager waren mit der Pflege der Bibliothek beschäftigt. Die Bibliothek des Klosters war sehr umfangreich, und viele Bücher waren beschädigt. Diese Arbeit leisteten sie gern, betrachteten sie als Unterhaltung und als Entgelt für den Aufenthalt im Kloster. Meine Schwester beschäftigte sich mit Nähen und flickte die ganze Unterwäsche der Schwestern. Ich strickte sämtliche Jacken und Pullover der Nonnen. Diese Arbeit war angenehm, und wir verbrachten täglich wohl zehn Stunden damit. An den einsamen Abenden saßen wir zusammen und erzählten uns