Jetta Schapiro-Rosenzweig

Sag niemals, das ist dein letzter Weg


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Frau­en sa­hen um zwan­zig Jah­re ge­al­tert aus. Mei­ne ers­te Fra­ge war: »Wo sind die Män­ner?« Sie ant­wor­te­ten, dass die Män­ner nicht weit von Po­nar ar­bei­te­ten. Da konn­te ich nicht mehr, ich fing an zu wei­nen. Und ich er­zähl­te, was in Po­nar vor sich ging. Wenn die Män­ner wirk­lich noch ein­mal von Po­nar zu­rück­kä­men, so soll­ten sie sich schnell ver­ste­cken. Als sie das ge­hört hat­ten, fin­gen sie bit­ter­lich an zu wei­nen. Da­mals wusste ich noch nicht, dass bei­de Män­ner zu die­sem Zeit­punkt schon nicht mehr am Le­ben wa­ren.

      Mei­ne Mut­ter um­arm­te mich und sag­te: »Be­ru­hi­ge Dich, mein Kind, es wird al­les gut!« Sie woll­te nicht zu­las­sen, dass ich zu mei­ner Schwes­ter ging. Sie wies mich an, nach Hau­se zu ge­hen und mich um mei­nen Mann und mein Kind zu küm­mern. Und so bin ich nach Po­nar zu­rück­ge­kehrt.

      Täg­lich hör­te man Schüs­se auf den Stra­ßen. Ju­den wur­den er­bar­mungs­los zu­sam­men­ge­schos­sen. Täg­lich er­gin­gen neue Be­feh­le, die Ju­den zu ver­fol­gen. Ein deut­scher Po­li­zist kam in un­se­re Woh­nung und sah zu­fäl­lig un­ser Ra­dio­ge­rät auf dem Tisch ste­hen. Wü­tend schrie er uns an. Ich nahm so­fort das Ge­rät und leg­te es in den Pup­pen­wa­gen mei­ner Toch­ter. Ich sag­te: »Das Ding ist schon lan­ge ka­putt, das Kind spielt nur da­mit.«

      Je­der Tag, der vor­bei­ging, brach­te uns Angst und Schre­cken. Mein Rü­cken schmerz­te vom täg­li­chen Beu­gen über die Kar­tof­fel­kis­te und beim Neu­ord­nen der Kar­tof­feln dar­um he­rum.

      Nani, un­se­re Kin­der­frau, nahm aus un­se­rem Pro­vi­ant täg­lich mit, was ihr ge­fiel, als ob es schon ihr ge­hör­te. Wie kann sich ein Mensch so än­dern? Im­mer war sie die Lie­be in Per­son gewesen – und jetzt? Ei­nes Mor­gens sag­te un­se­re Ver­mie­te­rin, dass die Deut­schen auch die An­ge­stell­ten von Ju­den ver­folg­ten, sie müsste sich auf das Schlimms­te ge­fasst ma­chen. Am glei­chen Tag noch war Nani ohne Wie­der­kehr ver­schwunden.

      Die Tage wur­den im­mer schreck­li­cher. Man er­zähl­te, dass alle Ju­den ins Ghet­to ge­trie­ben wer­den soll­ten. Wir hoff­ten, dass das Schie­ßen nun ein­mal auf­hö­ren wür­de, aber es wur­de mehr und mehr. Un­se­re Rolllä­den wa­ren schon lan­ge fest ge­schlos­sen, aber die Schreie von Frau­en und Kin­dern wur­den stär­ker und stär­ker, sie dran­gen uns durch Mark und Bein. Es kam uns vor, als ob es in Wil­na gar kei­ne Ju­den mehr ge­ben könn­te. Die Leu­te er­zähl­ten, dass man Jung und Alt zum Tode führ­te, dass die Kin­der bei le­ben­di­gem Lei­be mit den Al­ten be­gra­ben würden, dass auch Nicht­ju­den und so­gar Geist­li­che bru­tal er­mor­det würden.

      Es war bit­ter und fins­ter in un­se­ren Her­zen. Un­se­re Trä­nen wa­ren schon aus­ge­trock­net, wir schau­ten uns ge­gen­sei­tig an und konn­ten es nicht fas­sen. Leb­ten wir denn in ei­nem Schlacht­haus? Und trotz al­lem, was uns Tag für Tag be­geg­ne­te, ver­ließ uns die Hoff­nung nicht. Ei­nes Ta­ges – bald – wür­de das al­les vor­bei sein und wie ein bö­ser Traum en­den.

      Die Geschichte von Tante Jannina

      Wer ist Tan­te Jan­ni­na? Von ihr muss jetzt er­zählt wer­den.

      Jan­ni­na war die Schwes­ter mei­nes Va­ters. Un­ser Opa – der Va­ter mei­nes Va­ters – leb­te in ei­nem Dorf, wo er ei­nen Hof ge­pach­tet hat­te. Alle sei­ne Söh­ne schick­te er nach Wil­na, da­mit sie dort stu­die­ren konn­ten. Die äl­tes­te Toch­ter wan­der­te in die USA aus. Die kleins­te, Cha­na­le, blieb zu Hau­se, ihr Va­ter sorg­te für sie, lehr­te sie die jü­di­schen Ge­be­te zu le­sen und jü­disch zu be­ten. Ihre Freun­de und Freun­din­nen wa­ren al­ler­dings Chris­ten­kin­der. Mit ih­nen spiel­te sie in Wald und Feld. Gott hat­te ihr ein schö­nes Ge­sicht und eine schö­ne Stim­me be­schert, sie sang und tanz­te wun­der­schön. Der reichs­te Mann im Dorf, der die größ­ten Äcker ge­pach­tet hat­te, fand Ge­fal­len an ihr und lock­te sie oft mit Sü­ßig­kei­ten und Ge­schen­ken in sein Haus. Ei­nes Ta­ges war Cha­na­le ver­schwun­den. Man such­te sie über­all und glaub­te schließ­lich, sie sei im Teich er­trun­ken oder im Wald ver­schwun­den.

      In Wahr­heit aber hat­te der Päch­ter sie ent­führt und in das Be­ne­dik­ti­ne­rin­nen-Klos­ter von Wil­na ge­bracht. Dort wur­de sie ge­tauft und be­kam den Na­men Jan­ni­na. Neun Jah­re ver­gin­gen, da be­geg­ne­te mein Va­ter ei­ner Schar jun­ger Mäd­chen, ei­ner Schul­klas­se in lan­gen schwar­zen Klei­dern, die von Non­nen vorbeigeführt wur­de. Er dach­te: »Sol­che hüb­schen Mäd­chen sol­len Non­nen wer­den?« Er schau­te sie auf­merk­sam an und merk­te, dass auf ein­mal ein Mäd­chen aus der Grup­pe ins Klos­ter zu­rück­lief. In die­sem Au­gen­blick er­kann­te er sei­ne Schwes­ter und schrie: »Cha­na­le, Cha­na­le!« Aber sie ver­schwand im Klos­ter. Da­mals war sie schon in der ach­ten Klas­se des Gym­na­si­ums und be­such­te gleich­zei­tig das Kon­ser­va­to­ri­um.

      Die­se Be­geg­nung be­un­ru­hig­te mei­nen Va­ter sehr. Er fuhr zu Opa ins Dorf und er­zähl­te ihm, was er er­lebt hat­te. Da­nach fuhr Opa ins Klos­ter, aber dort stritt man al­les ab. Er ging so­gar mit der Po­li­zei hin, aber das war auch um­sonst. In den Lis­ten, die man ihm zeig­te, wur­de sie un­ter ei­nem an­de­ren – ad­li­gen – Na­men geführt. Man be­rich­te­te uns, dass sie an dem Tag, als mein Va­ter sie er­kann­te, zu ei­ner rei­chen ade­li­gen Fa­mi­lie in Kaf­kas ver­bracht wor­den war. Es war die Fa­mi­lie des Guts­be­sit­zers aus un­se­rem Dorf. Sie hei­ra­te­te dort ei­nen In­ge­nieur aus die­ser Fa­mi­lie, der bei Öl­boh­run­gen ar­bei­te­te. Er war viel äl­ter als sie und ein ed­ler, an­stän­di­ger Mann.

      Auch sie hat­te ein trau­ri­ges Schick­sal. Wäh­rend der rus­si­schen Re­vo­lu­ti­on, als sie schon Mut­ter von drei Söh­nen war, sperr­te man alle Aris­to­kra­ten ein, da­bei auch ih­ren Mann. Sie blieb mit den Kin­dern al­lein zu­rück. Doch sie war eine un­er­schro­cke­ne Frau und es ge­lang ihr schließ­lich, ih­ren Mann zu be­frei­en. Sie kauf­te ihn mit ih­rem wert­vol­len Schmuck frei. Mit der Ei­sen­bahn flüch­te­ten sie von Ort zu Ort. Eine Ty­phus-Epi­de­mie nahm ih­nen ihre drei Söh­ne. Nach vie­len Irr­we­gen er­reich­ten sie schließ­lich Kow­na in Li­tau­en. Dort konn­ten sie sich nie­der­las­sen; ihr Mann be­kam eine gute Stel­lung, sie konn­ten eine Zeit­ lang ein nor­ma­les Le­ben füh­ren und sie be­wohn­ten ein schö­nes Haus.

      Die Sehn­sucht, ihre Fa­mi­lie wie­der­zu­fin­den war groß, aber Kow­na und Wil­na wa­ren durch eine »ei­ser­ne« Gren­ze ge­trennt.

      Auf ei­ner Rei­se nach Pa­ris lern­te sie ei­nen Pries­ter ken­nen, der ein Freund der Ju­den war. Sie zeig­te ihm Fo­tos aus ih­rer Kind­heit. Auf ei­nem die­ser Bil­der war mein Va­ter in ei­ner Werk­statt für Tex­til­ma­schi­nen ab­ge­bil­det. Zu ihm kam ei­nes Ta­ges der Pries­ter in die Werk­statt. Er be­frag­te ihn über sei­ne Fa­mi­lie und er er­zähl­te ihm von sei­ner ver­schol­le­nen Schwes­ter Cha­na­le, die jetzt in Kow­na woh­ne und ver­such­te, et­was über ihre Fa­mi­lie zu er­fah­ren. Da­mals war sie wie­der Mut­ter ei­nes Soh­nes, den sie in Kow­no ge­bo­ren hat­te. Mein Va­ter war vol­ler Freu­de, auf die­se Wei­se wie­der eine Spur von sei­ner Schwes­ter er­hal­ten zu ha­ben. Er er­zähl­te dem Pries­ter al­les über sei­ne Fa­mi­lie. Wir Kin­der er­fuh­ren nichts von die­sen Tat­sa­chen, aber un­se­re Mut­ter war ge­nau in­for­miert.

      Da­mals wa­ren wir in un­se­rer Som­mer­woh­nung, nicht weit von Wil­na ent­fernt. Un­ser Opa wohn­te bei uns, alle sei­ne Kin­der au­ßer mei­nem Va­ter wa­ren nach Ame­ri­ka aus­ge­wan­dert. Va­ter er­zähl­te uns, dass eine Ju­gend­freun­din