Elizabeth früher so neidisch gewesen war. Elanas strahlende Jugend war den Zeichen des Alters gewichen: Ihr Haar war schütter und weiß und ihr Gesicht so faltig und eingefallen, dass Elizabeth sich unwillkürlich fragte, wie Elana es fertigbrachte, sich im Spiegel zu betrachten. Natürlich war es völlig in Ordnung, alt zu werden, dachte Elizabeth, aber der Sprung von einem zwölfjährigen Mädchen zu … so etwas, war schon ein Schock. Kein Wunder, dass Elanas Blick so erschöpft wirkte.
«Ich liebe das Buch ebenfalls», sagte Elana. Ihre Stimme klang genauso alt, wie ihr Körper aussah.
Norbridge atmete tief durch. «Ich dachte, Besuch würde dir guttun», sagte er zu Elana. «Und Elizabeth wartet schon seit Wochen darauf, dich sehen zu können. Vielleicht möchtet ihr beide …»
Noch bevor Norbridge den Satz beenden konnte, rannte Elizabeth zum Bett und schlang die Arme um Elana. Minutenlang verharrten beide ganz still in ihrer Umarmung. Als sich Elizabeth schließlich von dem anderen Mädchen löste, schaute Elana sie nur an. Immer noch sagte keine von beiden ein Wort.
«Möchte jemand ein Flurschen?», fragte Norbridge und zog eine Tüte mit den Süßigkeiten aus seiner Tasche. Elizabeth lachte, Elana lächelte, und die Stimmung entspannte sich ein wenig.
Elizabeth setzte sich auf das Bett. «Das alles tut mir so wahnsinnig leid.»
«Ich bin diejenige, die sich entschuldigen müsste», sagte Elana. «Ich wollte dich so oft vor den Gefahren warnen, davor, was meine Tante und meine Eltern vorhatten.»
«Du konntest dich schlecht gegen deine Familie stellen», sagte Norbridge sachlich. «Das verstehen wir. Jeder würde das verstehen. Es war eine unmögliche Situation, und du solltest dir keine Schuld geben.»
«Sie wussten alles über Winterhaus», sagte Elana. «Aus den Geschichten, die man sich seit Jahren in unserer Familie erzählt. Daher kannten meine Eltern auch das Buch und die Gänge, und so hat Tante Selena uns dazu gebracht, ihr zu helfen. Was sie uns alles versprochen hat! Und Gracella hat uns allen Angst gemacht. Ich hatte das Gefühl, dass ich gar nicht Nein sagen konnte.»
«Bitte, du musst dich nicht rechtfertigen», sagte Norbridge und ließ die Tüte mit den Flurschen spielerisch von einer Hand in die andere wandern. «Was passiert ist, ist ein schreckliches Unglück. Und ich bin sehr betroffen darüber, wie deine Eltern reagiert haben, dass sie einfach auf und davon sind. Dich trifft keine Schuld.»
Elanas müde Augen wanderten zu dem Buch auf ihrem Schoß. «Ich weiß», sagte sie leise.
«Wir werden dir helfen», sagte Elizabeth und nahm Elanas Hand. «Ich weiß noch nicht wie, aber wir lassen uns etwas einfallen.» Sie schaute ihren Großvater an. «Nicht wahr, Norbridge?»
Elana legte den Kopf schräg und blickte ebenfalls zu ihm hin. «Was könnten Sie denn tun? Ich weiß, dass niemand …» Sie hob stumm die Hände und starrte sie an, als ob sie nicht ihr gehören würden. Dann ließ sie sie wieder sinken. «Ich weiß, dass es nichts gibt, was man tun könnte.»
«Da wäre ich nicht so sicher», sagte Norbridge. «Ihr beide versteht besser als die meisten Menschen, dass in der Falls-Familie und in diesem Hotel eine Menge Magie stecken.» Er hob den Arm und ließ seine Muskeln spielen. «Selbst in diesen alten Knochen!»
Sein Blick wanderte von Elana zu Elizabeth, die beide schwiegen. Und dann warf er ohne jede Vorwarnung mit einer blitzschnellen Bewegung die Flurschen hoch in die Luft, schnippte mit den Fingern, und Elizabeth wurde für den Bruchteil einer Sekunde von einem Blitz geblendet. Als sie wieder sehen konnte, war die Tüte mit den Süßigkeiten verschwunden und an ihrer Stelle schwebten zwei Luftballons, einer silbern, der andere lila. Sie schaukelten an der Decke, als ob ein Kind sie losgelassen hätte und nur die Zimmerdecke sie daran hindern würde, weiter hinaufzufliegen. Und als ob das nicht genug wäre, glitten die beiden Ballons plötzlich langsam nach unten, auf die beiden Mädchen zu. Aber als Elizabeth nach dem lila Ballon greifen wollte und Elana nach dem silbernen, zerplatzten sie gleichzeitig mit einem scharfen Knall.
Staunend lachte Elizabeth auf. «Wow!», rief sie.
Elana lächelte schwach, aber sie schien sich ehrlich zu freuen. «Also das war echt cool», sagte sie. Und Elizabeth lachte wieder, denn was Norbridge getan hatte, war so entzückend gewesen, und außerdem war es schön zu wissen, dass die wahre Elana – das zwölfjährige Mädchen – irgendwo noch in dieser alten Frau steckte. Bis eben schien sie die Hoffnung verloren zu haben. Vielleicht fand Norbridge tatsächlich eine Möglichkeit, Elana wieder in ihr altes Selbst zurückzuverwandeln.
«Hast du in letzter Zeit noch andere gute Bücher gelesen?», fragte Elana Elizabeth, und dann unterhielten sich die beiden Mädchen, als ob dies ein ganz gewöhnlicher Besuch an einem ganz gewöhnlichen Tag wäre. Nach zehn Minuten hatte Elizabeth den Eindruck, dass Elana trotz ihrer Müdigkeit nicht mehr ganz so oft an ihre unglückliche Lage denken musste.
«Kannst du mir ein paar gute Bücher aus der Bibliothek bringen?», fragte Elana nach einer Weile.
«Ich suche dir all meine Lieblingsbücher heraus», versprach Elizabeth.
Dann, ganz plötzlich, flatterte das Gefühl in ihr auf.
«Hört mal zu, ihr beiden», sagte Norbridge. «Ich muss vor dem Konzert noch ein paar Dinge erledigen. Elizabeth, wenn du gerne noch eine Weile bleiben möchtest, kein Problem, aber …»
Ein Klopfen an der Tür ließ ihn verstummen. Bevor Norbridge antworten oder die Tür öffnen konnte, wurde sie schon aufgestoßen. Zu Elizabeths Überraschung stand Lena Falls im Türrahmen, die ältliche Tochter der ältesten Bewohnerin des Hotels, Norbridges neunundneunzigjähriger Cousine Kiona Falls. Lenas graue Haare waren gekämmt, energisch reckte sie das Kinn vor, und sie machte in ihrem dunkelblauen Bademantel den Eindruck, als ob das Zimmer, vor dem sie stand, ihr gehören würde und sie vollkommen perplex war, weil sich Fremde darin befanden.
Norbridge stand auf. Er wirkte etwas fassungslos, die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. «Lena?», sagte er, obwohl es egal war, was er sagte, denn Lena konnte seit sechzig Jahren nicht mehr hören und sprechen. Soweit Elizabeth wusste, hatte Lena in den vergangenen zwanzig Jahren ihr Zimmer immer nur am Heiligen Abend für das Festessen im Wintersaal verlassen, und vergangenes Weihnachten nicht einmal das. Sie döste meistens den lieben langen Tag, und niemand, nicht einmal ihre Mutter Kiona, wusste, was in ihrem Kopf vorging oder warum sie sich so weit vom Rest der Welt entfernt hatte. Sie konnte essen, war in der Lage aufzustehen und zu laufen; sie konnte lediglich nicht kommunizieren. Und eins war gewiss: Sie hatte seit Jahren ihr Zimmer nicht ohne Begleitung verlassen.
Norbridge streckte den Arm aus, um Lena willkommen zu heißen, und sie nickte ihm zu, als ob sie sich tagtäglich begegnen würden. Mit einem weiteren Nicken begrüßte sie Elizabeth. Und dann marschierte sie geradewegs auf das Bett zu, nahm Elanas Hand in ihre beiden Hände und starrte ihr in die Augen, als ob sie nur aus dem Grund gekommen war, um die Farbe von Elanas Pupillen zu studieren.
Im Zimmer war es vollkommen still, während Lena dasaß und starrte.
«Gibt es etwas, das Sie sagen wollen?», fragte Elana schließlich.
«Sie kann nicht sprechen», erklärte Norbridge. «Und sie kann auch nichts hören.» Und dann setzte er leiser hinzu: «Ich glaube es nicht, dass sie tatsächlich hier ist.»
Elizabeth schaute ihn verwirrt an. Lena schloss die Augen und neigte den Kopf nach vorn. Ein paar Sekunden lang bewegte sie stumm die Lippen. Dann ließ sie Elanas Hand los, stand auf, drehte sich um und verließ das Zimmer wieder. So schnell, wie sie gekommen war, so schnell waren die drei anderen wieder allein, und die Aura von Ratlosigkeit, die durch Lenas Auftauchen entstanden war, verstärkte sich noch.
«Was war das denn gerade?», sagte Elana. Und nachdem Norbridge ihr erklärt hatte, dass die taubstumme Lena seit dreiundzwanzig Jahren kaum das Bett verlassen hatte und fast nur noch in ihrer eigenen Welt – in ihrem Kopf – lebte, starrte Elana