Ben Guterson

Die Magie von Winterhaus


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Schlinge, war gerade erschienen und er kam eines Tages zum Abendessen.» Ein unsicherer Ausdruck überzog ihr Gesicht. «Du liebe Güte, ob ich wirklich weitererzählen soll?»

      Wieder durchlief Elizabeth ein Schauer; sie spießte ein Stück Törtchen auf und schob es sich schnell in den Mund, um ihr Unbehagen zu überspielen.

      «Bitte, fahren Sie fort», sagte Professor Fowles. «Sie haben uns neugierig gemacht. Wir zappeln sozusagen am Haken!»

      Mrs. Wellington schaute sich am Tisch um und blickte dann zu Hyrum. «Wenn ich mich an diesen Abend recht entsinne, hielt Ihr Großvater Norbridges Schwester Gracella für sehr charmant. Sehr reif für ihr Alter. Sie war elf und er fast dreißig. Aber er stellte ihr während des Abendessens eine Reihe von Fragen, und es war nicht zu übersehen, dass sie in seinen Augen außerordentlich intelligent war. Er sagte: ‹Nun, vielleicht werde ich eines Tages ein ganz besonderes Buch für dich schreiben›, woraufhin wir alle lachten. Ich glaube, ich war sogar ein bisschen eifersüchtig. Sie wissen ja, wie man in diesem Alter so ist.» Ihr Blick wanderte zu Elizabeth, und sie wiegte reumütig den Kopf. «Oder in jedem Alter! Wie auch immer, das war’s. Keine besonders aufregende Geschichte, fürchte ich.» Sie fingerte an dem glitzernden Stein an ihrem Ohrring herum. «Sie erwähnten, dass er ziemlich oft im Winterhaus war, Norbridge», sagte sie dann. «Können Sie sich noch an seinen letzten Besuch erinnern?»

      «In der Tat», sagte Norbridge. Es war Elizabeth nicht entgangen, dass ein Schatten über sein Gesicht gewandert war, während er zugehört hatte. «Es war vor fast fünfundzwanzig Jahren, und er blieb nur eine Nacht. Es war ein völlig ereignisloser Besuch. Er schien sehr müde zu sein. Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, war ich sehr überrascht, ihn als Gast begrüßen zu dürfen, weil er so lange nicht da gewesen war und ich ihn aus den Augen verloren hatte. Ich hatte tatsächlich gedacht, er sei gestorben.»

      «Ich erinnere mich noch an den Besuch», sagte Egil P. Fowles. «Und ich kann bestätigen, dass wir alle der Meinung waren, der gute Mann sei längst in ein Spukhaus im Himmel umgezogen. Das war irgendwie passend, nicht wahr, Norbridge? Wo doch Crowley so oft über die Toten geschrieben hat, die aus den Gräbern wiederauferstehen.» Er schaute sich am Tisch um. «Ein Skarabäus, ein von den alten Ägyptern verehrter Käfer, kommt in mehreren seiner Romane vor.» Noch einmal ließ er den Blick in die Runde schweifen. «Der Skarabäus ist ein uraltes Symbol für das ewige Leben. Für die Auferstehung.»

      Jetzt war Elizabeth hellwach. «Glauben Sie, er hat wirklich über diese Dinge geforscht?», fragte sie mit einem Seitenblick auf Norbridge. «Über echte Magie, meine ich.»

      Professor Fowles zog das Kinn ein. «Ich kannte den Mann so gut wie gar nicht, aber ich habe mich ein bisschen über ihn schlau gemacht. Die ägyptologische Gesellschaft von ‹Northern South Dakota› pflegt eine Website mit dem Titel ‹Der blutrote Skarabäus›, wo er hin und wieder erwähnt wird.» Er drehte sich zu Hyrum um. «Haben Sie weitere Informationen darüber, Sir?»

      Hyrum tupfte seinen Mund mit der Serviette ab. Mit einer verschmitzten Miene sagte er: «Ich kannte Großpapa Damien eigentlich gar nicht, aber – du meine Güte! – dieses ganze Gerede über ihn wird mir langsam richtig unheimlich!»

      Alle am Tisch lachten, und die Anspannung schien zu verfliegen. Aber Elizabeth fiel auf, dass Leona merkwürdig geistesabwesend zu sein schien, obwohl sie in das Gelächter der anderen mit einfiel. An der Geschichte über Damien Crowley war noch mehr dran, da war sich Elizabeth sicher.

      «Es ist doch jedem klar, dass ich bei diesem Wetter niemanden vor die Tür lasse», sagte Norbridge und deutete dabei auf Egil und Hyrum. «Die Straßen sind unpassierbar, also müssen Sie über Nacht bleiben. Das wird ein Spaß! Um acht gibt es das Konzert, und danach eine Runde heiße Schokolade für alle! Eine Nacht, die man nicht so schnell vergisst!»

      «Wir müssen uns um ein Puzzle kümmern», sagte Mr. Wellington und zwinkerte Mr. Rajput zu. «Musik und Belustigung, alles schön und gut, aber …»

      Die Erde rumpelte.

      Nicht nur diejenigen an Elizabeths Tisch, sondern alle im Speisesaal erstarrten und rissen die Augen auf. Der Wintersaal bebte etwa fünf Sekunden lang, und als das Rumpeln aufhörte, saßen die Menschen ängstlich da und warteten, was wohl als Nächstes geschehen würde.

      Norbridge stand auf. «Wir haben wohl eine ganz außergewöhnliche Wettersituation, eine Kombination aus Schneesturm und Gewitter, ein Schneewitter, sozusagen!», rief er und blickte sich im Saal um. «So etwas passiert nicht oft, aber wenn, dann kann es ziemlich beängstigend sein.» Er legte die Handflächen gegen die Rippen, als wollte er noch mehr sagen, doch dann zögerte er. «Lassen Sie sich Ihren Nachtisch schmecken. Ich werde etwas überprüfen und bin gleich wieder da.»

      Er beugte sich zu den anderen an seinem Tisch und sagte: «Ich habe unten in der Nähe der Airhockey-Tische in einem Schrank einen Seismographen. Ich will mir die Auswertungen nur kurz anschauen. Erstaunlich! Ein Schneewitter! Wer hätte das gedacht? Das ist zum letzten Mal vor achtzehn Jahren vorgekommen.»

      Er wirbelte herum und rauschte aus dem Saal, wobei ihm alle nachschauten. Ein beunruhigtes Gemurmel erhob sich.

      Professor Fowles war sprachlos, und Mr. Rajput schien so verstört zu sein, dass Elizabeth fürchtete, er würde anfangen zu weinen. «Schneewitter?», murmelte er.

      «Gibt es so etwas wirklich? Ein Gewitter mit Schnee?», fragte Mrs. Rajput.

      «Hätten wir dann nicht zuerst einen Blitz gesehen?», setzte Mr. Wellington hinzu.

      Genau das hatte Elizabeth auch gedacht. Aber jetzt galt ihre Sorge Hyrum, der benommen wirkte und so kreidebleich geworden war, als würde er jeden Moment sein Abendessen wieder von sich geben.

      «Geht es Ihnen gut, junger Mann?», fragte Leona.

      Er zuckte zusammen und wandte sich ihr dann zu. «Bestens», sagte er schwach. Er straffte die Schultern und atmete tief durch. Seine Wangen bekamen wieder Farbe, und der muntere Ausdruck kehrte auf seine Miene zurück. «So eine Erschütterung macht mich einfach nervös», sagte er und zuckte peinlich berührt mit den Schultern. Dann schaute er Elizabeth an. «Möchtest du vielleicht später eine Runde Airhockey spielen?»

      Entspannt lachten die anderen auf, und der merkwürdige Moment war vergangen. Man wandte sich wieder dem Nachtisch zu. Aber Elizabeth ging einfach der Gedanke nicht aus dem Kopf, dass sie auch vorhin, als unter der Mine die Erde gerumpelt hatte, keinen Blitz gesehen hatte.

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      KAPITEL 8

      DIE STILLE NACH DEM STURM

      Als Elizabeth kurz vor halb sieben zu Elanas Zimmer kam, wartete Norbridge bereits auf sie. Sie wollte gerne wissen, ob er irgendetwas über das Rumpeln herausgefunden hatte, einerseits, weil sie neugierig war, andererseits, weil sie das Gefühl hatte, dass sich durch dieses Thema die Anspannung, die vorhin zwischen ihnen geherrscht hatte, ein wenig auflockern würde. Aber Norbridge breitete einfach die Arme aus und drückte Elizabeth, die sich bereitwillig hineinwarf, an sich. Die beiden hielten sich eine Weile fest, dann öffnete Norbridge mit einem liebevollen Blick auf Elizabeth die Tür.

      Elanas Zimmer wurde von einer kleinen Lampe auf dem Nachttisch neben dem Bett erleuchtet. Elizabeth war bestimmt schon ein Dutzend Mal hier gewesen, um Elana zu besuchen, aber so wie jetzt hatte sie das andere Mädchen dabei nie erlebt: Elana war wach, saß aufrecht im Bett unter ihrer Decke, den Rücken gegen zwei dicke Kissen gelehnt. Und nicht nur, dass ihre Augen geöffnet waren – sie las sogar ein Buch, Merkwürdiges aus dem Geheimarchiv der Mrs. Basil. E. Frankweiler. Und sowohl der Titel des Buchs als auch die Tatsache, dass Elana munter war, versetzten Elizabeth in Erstaunen.

      «Ich liebe dieses Buch!», rief Elizabeth. Dann schlug sie die Hand vor den Mund. «Tut mir leid. Ich wollte nicht so laut reden.»

      Elana legte das Buch mit einer zierlichen Bewegung