Freundin. «Geh voraus, aber pass auf, dass du dich in dieser Menschenmenge nicht verirrst.»
«Und du behalte meinen Dutt im Blick», sagte Leona, «damit wir uns in dem Gedränge nicht verlieren.» Sie lachte laut auf und ging an Elizabeth vorbei. «Komm, suchen wir deinen ehrgeizigen Lehrer, Mr. Crowley. Er hat während der letzten ein, zwei Stunden in meiner Bibliothek gedöst … ähm, studiert, meine ich natürlich, während ich dieses tolle Buch gelesen habe, das du mir empfohlen hast. Die Sterne unter meinen Füßen, ein echter Hammer!»
«Freut mich, dass es dir gefallen hat», sagte Elizabeth und dachte einmal mehr, wie schön es war, eine Freundin wie Leona zu haben. Sie entdeckte Hyrum an einem Tisch im vorderen Bereich des Saals, neben ihm Professor Egil P. Fowles und die beiden Puzzle-Männer mit ihren Ehefrauen. «Ich habe Hyrum heute beim Skilaufen getroffen», sagte Elizabeth.
«Das hat er mir erzählt», nickte Leona. Sie blieb stehen und bedachte Elizabeth mit einem ernsten Blick. «Dieser junge Mann ist wahrhaft ein Gelehrter. Heute hat er Herbert Munchglicks Chaos und Charisma aus dem Regal geholt, dazu noch Die Peruvianischen Salzseen – ein geschichtlicher Abriss von Shannon Okello, Perlowskis Berichte von seinen Reisen nach Uqbar, und er hat sogar Marshall Falls’ altes Tagebuch durchgeblättert. Eine sehr außergewöhnliche Auswahl!» Leonas Augen weiteten sich erfreut, und Elizabeth drehte sich um. «Schau, er winkt uns zu.»
Kurz darauf hatten Elizabeth und Leona Platz genommen und alle anderen an dem runden Tisch begrüßt. Mrs. Rajput und Mrs. Wellington trugen elegante Abendkleider und funkelnde Juwelen und freuten sich sehr, Elizabeth wiederzusehen. Und Professor Fowles war von ihrer Anwesenheit so begeistert, dass man hätte meinen können, er würde gleich in Jubelgeschrei ausbrechen, obwohl er Elizabeth an fünf Tagen die Woche in der Schule begegnete.
«Elizabeth! Elizabeth!», sagte er aufgekratzt. Er trug wie immer seinen braunen Tweedanzug, dessen Stoff so dick war, dass er draußen im Schnee kaum einen Mantel brauchte. «Wie wunderbar, dich zu sehen!» Er schüttelte erst Elizabeths und dann Leonas Hand. «Und unsere liebreizende Bibliothekarin!», setzte er hinzu, bevor er auf seine Armbanduhr schaute, «welche die Türen der Bibliothek täglich außer sonntags um Punkt neun Uhr öffnet. Ich freue mich sehr über Ihre Gesellschaft.»
Es dauerte nicht lang, da setzte sich auch Norbridge zu ihnen – der Elizabeth kaum merklich zuzwinkerte –, und dann wurden Teller mit köstlichem Fisch und Süßkartoffeln, grünen Bohnen und Maisbrot mit Körnern aufgetragen. Alle Anwesenden – bis auf den düster dreinblickenden Mr. Rajput – erfreuten sich an dem leckeren Essen, den angenehmen Gesprächen und dem fröhlichen Gelächter. Elizabeth genoss den Abend so sehr, dass sie beinahe den Vorfall an der Mine, ihre Sorge wegen Elana und ihren unerlaubten Besuch in Zimmer 333 vergaß. Mit einem leisen Schuldgefühl dachte sie an das Puzzleteil, das sie in ihrer Schreibtischschublade versteckt hatte.
«Ich weiß nicht, ob allen Anwesenden bekannt ist», erklärte Professor Fowles, nachdem die leeren Teller abgeräumt waren und der Nachtisch in Form von Brombeertörtchen und Vanilleeis serviert wurde, «dass unser fleißiger Mr. Hyrum Crowley» – bei diesen Worten legte Egil eine Hand auf den Rücken des jüngeren Mannes und strahlte ihn an – «sowohl seinen Abschluss als Lehrer anstrebt als auch gleichzeitig ein Studium in vergleichender Literaturwissenschaft betreibt. Hyrum, vielleicht können Sie den Anwesenden von ihren augenblicklichen Forschungen erzählen.»
Hyrum, der immer noch den blaugestreiften Pullover trug, den er beim Skilaufen unter seiner dicken Jacke angehabt hatte, wischte sich den Mund mit seiner Serviette ab und legte die Arme auf den Tisch. Elizabeth dachte – nicht zum ersten Mal – dass er die geradeste Kinnlinie hatte, die sie je gesehen hatte, und dass sie noch nie erlebt hatte, wie jemand sich so zielgerichtet bewegte. Alle am Tisch sahen ihn erwartungsvoll an.
«Vielen Dank, Mr. Fowles», sagte Hyrum. «Es stimmt, während ich in Havenworth mein Referendariat mache, schreibe ich gleichzeitig an meiner Abschlussarbeit für die Universität, und zwar über Märchen, genauer gesagt, über alte Märchen. Die sind ziemlich furchterregend und … na ja, viel blutiger, als die meisten Leute wissen.» In gespieltem Entsetzen riss er die Augen auf. «Es ist sehr interessant, all die gruseligen Dinge zu erforschen, die hinter den angeblich so harmlosen Geschichten stecken, die wir alle aus Bilderbüchern und Filmen kennen.»
«Ein würdiger Erbe für das schauerliche Vermächtnis Ihres Großvaters», sagte Mr. Rajput mit ernster Miene. «Seine Bücher haben unzähligen Lesern schlaflose Nächte und fürchterliche Albträume beschert …»
«Mr. Rajput», sagte Mr. Wellington, «bitte, Sir. Sie sehen immer alles gleich schwarz. Das ist der Stimmung sehr abträglich. Sie sind mein guter und treuer Freund, aber ich möchte doch um etwas mehr Rücksicht bitten.»
Mrs. Rajput legte eine Hand auf den Arm ihres Mannes. «Mein Lieber», sagte sie freundlich und nickte zu Elizabeth hin. «Wir wollen doch niemanden ängstigen.»
«Ach, schon gut», sagte Elizabeth. «Ich habe schon viele Bücher von Damien Crowley gelesen. Colin Dredmares Kammer der Verzweiflung, Die Dunkelheit nach Mitternacht. Einen ganzen Haufen. Norbridge hat mir eins geschenkt, als ich das erste Mal im Winterhaus war.»
Vor ihrem inneren Auge sah Elizabeth das Anna Lux-Buch in der Schublade von Gracellas Zimmer. Sie hatte Norbridge nie danach gefragt – natürlich nicht –, aber es war ihr immer seltsam vorgekommen, dass Norbridge ihr ausgerechnet ein Buch von Damien Crowley geschenkt hatte, demselben Autor, der auch das Buch geschrieben hatte, das in Gracellas Zimmer lag.
«Damiens Werke waren früher bei den Gästen dieses Hotels sehr beliebt», sagte Leona. «Und bei vielen anderen Leuten ebenfalls. Aber ich fürchte, er ist aus der Mode gekommen. Die Leser von heute halten ihn für ‹ein bisschen zu makaber›. In Schulen und Bibliotheken findet man seine Bücher kaum noch.»
«Er ist in Havenworth aufgewachsen, wissen Sie», sagte Norbridge zu Mr. Rajput. «Ein echtes Original. Er ist oft im Winterhaus gewesen, als ich jung war.»
«So etwas wird heute nicht mehr geschrieben», sagte Egil P. Fowles. «Beunruhigend, aber mit Stil. Er hatte Geschmack!» Der Professor betrachtete seinen Nachtisch. «Er war mit Avery Dimlow befreundet, soweit ich mich erinnere. Mit dem alten Buchhändler in Havenworth.»
Ein Schauer durchzuckte Elizabeth. Sie war oft in Avery Dimlows Buchladen gewesen, auch wenn Avery selbst ein bisschen schrullig war. Aber sie hatte keine Ahnung gehabt, dass es eine Verbindung zwischen ihm und Damien Crowley gab.
«Ich kannte meinen Großvater kaum», sagte Hyrum. Er senkte den Blick. «Meine Mutter sagte immer, je älter er wurde, desto wunderlicher wurde er auch.»
«Wunderlicher?»
Hyrum warf den anderen am Tisch einen verstohlenen Blick zu. «Nun, er interessierte sich für … na ja, für Magie. Echte Magie. Schwarze Magie, sagt man.»
«Vielleicht hat er Forschungen angestellt», mutmaßte Mr. Wellington, «für seine Bücher.»
Schulterzuckend widmete sich Hyrum wieder dem Brombeertörtchen auf seinem Teller. «Ich weiß es nicht. In unserer Familie wurde nicht darüber geredet. Alle haben ihn nur den ‹komischen alten Damien› genannt. Ich habe nicht alles von ihm gelesen, aber ich weiß, dass seine Bücher mit der Zeit immer merkwürdiger wurden. Die Geschichten hatten ständig irgendetwas mit Magie zu tun.» Hyrum schob sich die Gabel mit einem Stück Törtchen in den Mund und kaute. Dann sagte er: «Ich persönlich finde seine späteren Bücher eher langweilig. Da gibt es eins mit dem Titel Die abscheuliche Rache des elektrischen Dosenöffners, das so gut wie unlesbar ist.»
«Ich bin ihm einmal begegnet», ließ sich Mrs. Wellington leise vernehmen, und alle wandten sich ihr zu. Draußen heulte eine Windböe auf. «Hier im Winterhaus. Damals war ich elf Jahre alt.»
Das Interessante an Mrs. Wellington war, dass sie eine Menge über die Geschichte des Hotels wusste, weil sie einmal als Kind mit ihrer Familie geraume Zeit hier verbracht und sich in Winterhaus verliebt hatte. Dieser Vorliebe für das Hotel war es zu verdanken, dass sie und ihr Mann und ihre Freunde, die Rajputs, so oft herkamen.