unter einer Decke steckten, gezwungen worden, gegen Elizabeth zu intrigieren, um Gracella wieder zu ihrer alten Stärke zu verhelfen. Dazu wollte sich Gracella Elizabeths neu gewonnener Macht bedienen, doch Elizabeth entschloss sich dazu, diese Macht für sich zu behalten, und besiegte die böse Zauberin. Aber in der Schlacht in den verschlungenen Minengängen unter dem Hotel hatte Gracella in einem letzten, verzweifelten Versuch, sich selbst zu retten, Elanas Körper ihre Lebensjahre entzogen, mit dem Ergebnis, dass die zwölfjährige Elana nun eine schwache und runzelige alte Frau von neunzig Jahren war. Eine entsetzliche, erschreckende Tragödie, umso mehr, als sich herausstellte, dass Elana ein unschuldiges Bauernopfer ihrer eigenen hinterhältigen Familie war. Nach den dramatischen Ereignissen in der Silvesternacht waren Elanas Eltern und ihr Bruder verschwunden und hatten Elana allein zurückgelassen.
Elizabeth fühlte sich elend bei dem Gedanken an Elanas Unglück. Sie fand, dass das andere Mädchen viel schlimmer bestraft worden war, als sie es für die wenigen Hilfestellungen, die sie ihren Eltern bei ihrem üblen Plan geleistet hatte, verdiente. Wenn es irgendetwas gab, das ihr helfen konnte, wollte Elizabeth es ausfindig machen. Sie wusste, dass Norbridge genauso dachte. Im Augenblick wohnte Elana in einem Zimmer im vierten Stock, das sie nie verließ. Sie befand sich in einem Zustand permanenter Trauer und Verwirrung, und es war schwer zu sagen, ob sie überhaupt verstand, wo sie war oder was mit ihr geschehen war. Manchmal fragte sich Elizabeth, ob Elanas Geist sich durch die Ereignisse dauerhaft umnachtet hatte. So traurig es auch war, möglicherweise gab es keine Hoffnung mehr für sie.
«Ist etwas mit ihr geschehen?», fragte Elizabeth.
«Ich glaube, sie möchte mit dir und Norbridge reden», sagte Jackson. «Soweit ich das mitbekommen habe, geht es ihr besser. Hoffen wir, dass sie über den Berg ist.»
Diese Nachricht kam überraschend für Elizabeth und sie freute sich sehr darüber. «Das klingt ja großartig!» Sie schaute zu der Uhr auf dem Pagentisch. «Ich werde pünktlich um vier oben sein.»
«Wunderbar», sagte Jackson. Er nickte und wandte sich dem Tisch zu, wo Sampson ein paar Unterlagen durchblätterte. Dann ging er auf ihn zu. «Machen Sie keinen Buckel, Sir!», rief er. «Das ist schlecht für den Rücken und schlecht für die Wirbelsäule. Aufrecht stehen! Aufrecht!»
Elizabeth wollte sich schon der Treppe zuwenden, als ihr Blick wie von selbst noch einmal zu dem Puzzle wanderte und sie den unwiderstehlichen Drang verspürte, weitere passende Teile zu finden. Sie betrachtete den Tempel auf dem Motiv und das Wort, das in einer ihr unbekannten Sprache über den Türen eingemeißelt war. Mr. Wellington hatte ihr einmal erzählt, es bedeute «Glaube», und jedes Mal, wenn Elizabeth daran dachte, überkam sie ein tröstliches Gefühl. Mit einem Finger fuhr sie über die Buchstaben, als würde sie ein Blatt Papier glätten, und legte dann den Finger auf ihren Pullover, auf die Stelle, unter der sich der Anhänger mit demselben Wort darauf befand.
Ein Schauer überlief sie, ganz ähnlich wie das Gefühl, aber merkwürdig kalt und scharf. Ohne nachzudenken, nahm sie ein Puzzleteil in die Hand – wieder ein Stück des blauen Himmels – und starrte es an. Nach einem prüfenden Blick über die Schulter, ob nicht etwa Jackson, Sampson oder sonst jemand herübersah, steckte sie das Puzzleteil in ihre Tasche, holte tief Luft und ging dann zur Treppe, hinaus aus der Lobby.
Sie hatte gerade eins der fünfunddreißigtausend Teile von Mr. Wellingtons und Mr. Rajputs Puzzle gestohlen.
KAPITEL 4
WOHIN DIE SEELE SENDEN?
Elizabeths Zimmer mit der Nummer 301 befand sich im dritten Stock und war so hell und freundlich, wie das Zimmer bei ihrer Tante und ihrem Onkel in dem schäbigen Haus in Drere düster und trüb gewesen war. Man muss sich vorstellen, in einem Hotel zu leben, wo für alles gesorgt und alles erledigt wird, aber mit all den Dingen, die einem lieb und teuer sind: die eigenen Bücher auf einem großen Regal aus Eichenholz, die eigenen Kleider in einem Kirschbaumschrank, die eigenen Poster an den Wänden – Huskies vor einem Schlitten, der junge Artus, der Excalibur aus dem Stein zieht, das Cover von Der Herr der Diebe, das Schnabeltier aus dem dritten Cattle-Battle Film Die Rückkehr der Heifers – und Ketten mit Glitzerkram, kleinen Fähnchen und Lichtern kreuz und quer über der Decke. So sah es in Elizabeths Zimmer aus. Sie liebte es. Und manchmal konnte sie kaum glauben, dass all das ihr gehörte. Am liebsten saß sie auf dem Sofa, schaltete die Tiffany-Lampe ein und las stundenlang. Wenn die Vorhänge offen waren und den Blick freigaben auf den Winterhimmel, den Lake Luna und die Berge dahinter, umso besser. Aber eine dunkle Nacht mit einem Halbmond war auch nicht zu verachten. Ihr zweiter Lieblingsort, gleich nach dem gemütlichen Lesesofa, war der kleine Schreibtisch neben dem Bett, an dem sie ihre Hausaufgaben erledigte, Bilder malte oder eine der Listen vervollständigte, die sie in ihrem Notizbuch anlegte. Erst kürzlich waren einige neue hinzugekommen: «Gründe, warum die Havenworth Akademie besser ist als die Mittelschule in Drere», «Die besten Vorträge im Winterhaus in diesem Jahr», «Lieder, die ich auf der Gitarre spielen werde, wenn ich Gitarrespielen gelernt habe», «Tattoos, die ich mir nie machen lassen würde, selbst wenn ich jemals auf die Idee kommen sollte, ein Tattoo zu tragen». Es fiel ihr leicht, sich an diesem Schreibtisch zu konzentrieren, ganz anders als in ihrem Zimmer in Drere, wo sie ihre Mathehausaufgaben hatte machen müssen, während nebenan der Fernseher ihrer Tante plärrte (Car Crash Chaos oder Wir lachen über die anderen! gehörten zu ihren Lieblingssendungen) oder sie sich die endlosen Klagen ihres Onkels über seinen Job anhören musste. Das Leben im Zimmer 301 des Hotels Winterhaus war ein wahr gewordener Traum.
Aber als sie an diesem Nachmittag die Tür hinter sich abschloss und ihre Skikleidung auszog, fanden ihre Gedanken keine Ruhe. Sie musste ständig an den unheimlichen Mineneingang denken, an das merkwürdige Verhalten der Männer am Puzzletisch, an Elanas Zustand. Vor allem aber beschäftigte sie die Frage, warum sie ein Puzzleteil gestohlen hatte. Sie holte das kleine hölzerne Plättchen aus ihrer Tasche, legte es auf den Schreibtisch und betrachtete es: ganz und gar blau, die Ränder geschwungen und präzise ausgesägt, wie all die anderen Teile des Puzzles. Völlig normal. Was nicht normal gewesen war, war die Tatsache, wie schwer es ihr gefallen war, die Lobby zu verlassen, als sich das Teil in ihrer Tasche befand. Elizabeth vermutete, dass es an dem schlechten Gewissen lag, das an ihr nagte, aber sie hatte auch den seltsamen Eindruck gehabt, dass sie gegen eine Art Widerstand ankämpfen musste, als ob ein unsichtbares Band sie wieder zum Tisch ziehen würde.
Ich bringe es bald zurück, dachte sie und schob die Frage, was sie überhaupt dazu bewogen hatte, es mitzunehmen, beiseite. Sie legte das Holzplättchen in die oberste Schublade ihres Schreibtischs, duschte schnell und setzte sich dann hin, um das zu tun, was sie an den Samstagnachmittagen am liebsten tat: sich in ihren neuen Laptop einzuloggen, den Norbridge für sie gekauft hatte und den zu benutzen sie sich selbst nur dreimal in der Woche für eine halbe Stunde gestattete, um mit ihrem besten Freund Freddy Knox E-Mails auszutauschen.
Elizabeth mochte die Arbeit in der Bibliothek, wo sie Leona mindestens drei Nachmittage in der Woche und meistens auch an den Wochenenden half; bereitwillig führte sie samstagvormittags interessierten Gästen eine Stunde lang die Camera obscura im dreizehnten Stock vor, die Freddy repariert hatte. Sie hatte ihm versprochen, sich darum zu kümmern. Sie mochte auch ihre Schule und hatte sich sogar mit ein paar Kindern angefreundet. Aber worauf sie sich am allermeisten freute, war, einmal in der Woche eine Nachricht von Freddy zu bekommen, mit dem sie in den zwei vorangegangenen Weihnachtsferien etliche Abenteuer erlebt hatte und der in fünf Tagen zusammen mit seinen Eltern im Winterhaus eintreffen würde, um hier die Osterfeiertage zu verbringen.
Freddy war ein Jahr älter als Elizabeth. Seine ungeheuer wohlhabenden Eltern hatten allerdings viel mehr Interesse an den Dingen, die sie kauften, und an den Orten, zu denen sie reisten, sodass Freddy für sie immer erst an zweiter oder dritter Stelle kam. Vier Jahre lang hatten sie ihn ausgerechnet in der Zeit, in der die meisten Familien versuchten, zusammen zu sein, allein im Winterhaus