wollte sie überprüfen, ob sie auch echt waren. Aus einem Impuls heraus legte sie das Ohr gegen die Wand und lauschte, genauso, wie sie es vor drei Monaten getan hatte. Damals hatte sie ein weit entferntes Summen gehört und war diesem Geräusch gefolgt, bis sie tief unter dem Winterhaus auf eine rätselhafte Eisskulptur gestoßen war, die ihr geholfen hatte, die Macht in ihrer Halskette zum Leben zu erwecken. Und als sie jetzt ihr Ohr gegen die Wand drückte, erkannte sie zu ihrer großen Überraschung, dass das Geräusch immer noch da war! Sie hielt den Atem an und schloss die Augen. Das Summen war so leise, dass sie es kaum hören konnte – aber es gab keinen Zweifel: das gleiche Summen wie an Weihnachten.
Mit einem Ruck wich Elizabeth von der Wand zurück und schaute sich hektisch um. Sie erinnerte sich an etwas, und ohne darüber nachzudenken, was sie vorhatte, ging sie zu den Haken an der Wand, an denen die Werkzeuge hingen. Rechts davon, etwa in Hüfthöhe, hing ein silberner Generalschlüssel – jener Schlüssel, mit dem Elizabeth vor zwei Jahren die Tür zu Gracellas Zimmer aufgeschlossen hatte. Sie warf einen Blick zu der offenen Tür, dann nahm sie den Schlüssel vom Haken und verließ den Raum. Mit schnellen Schritten marschierte sie durch den Gang und bog dann links ab, zu Zimmer 333. Einen Augenblick später stand sie vor Gracellas Tür.
Zimmer 333 war eine Absonderlichkeit im Winterhaus, und es war der eine Ort, vor dem Elizabeth zurückschauderte, seit sie hier wohnte. Das Zimmer befand sich am Ende eines dunklen Korridors, von dem keine weiteren Türen abgingen, als ob der Gang von vornherein als Sackgasse geplant gewesen war, nur für dieses einzelne Zimmer. Die Deckenlampe vor der Tür leuchtete stets etwas trüber als alle anderen Lampen des Hotels, und auf einem kleinen Zettel neben dem Schloss an der Tür stand ZUTRITT VERBOTEN. Alles an Zimmer 333 wirkte düster, und oft konnte Elizabeth kaum glauben, dass sie einmal den Mut aufgebracht hatte, hineinzugehen. Jetzt ignorierte sie all ihre Befürchtungen; sie sagte sich, dass sie lediglich wissen wollte, ob das Anna Lux-Buch noch dort lag, wo sie es zurückgelassen hatte.
Elizabeth schloss die Tür auf und trat ein, wobei sie das Licht einschaltete. Es hatte sich nichts verändert: ein Bett in der Ecke, mit einer Wolldecke und blauen Kissen, ein klobiger Schreibtisch, ein leeres Bücherregal und ein paar Stühle. Alles war so schlicht und uninteressant wie damals, als sie das erste Mal in diesem Zimmer gewesen war.
Sie ging direkt zum Schreibtisch und zog die oberste Schublade auf – und dort lag das Buch: grau, schmucklos, fest gebunden, als ob es all die Monate nur auf sie gewartet hätte, Die geheime Unterweisung der Anna Lux.
Genau da, wo es die ganze Zeit war, dachte Elizabeth.
Das Gefühl summte durch sie hindurch. Sie griff sich das Buch, schlug das erste Kapitel auf und las den ersten Satz – Worte, die sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten: Es war einmal ein Mädchen, das so sehr von Magie und Zauberei und allerlei rätselhaften Dingen fasziniert war, dass es beschloss, eine Hexe zu werden.
Sie wollte das Buch zurücklegen und das Zimmer verlassen, aber aus irgendeinem Grund blätterte sie zum Vorsatzpapier ganz vorne im Buch. Und dort fand sie eine Widmung, geschrieben mit schwarzer Tinte und in einer ordentlichen Handschrift: Für Gracella – eines Tages wirst du allen zeigen, was sie nicht erkannt haben. Damien Crowley.
Elizabeth legte die Hand an die Stirn. Jemand näherte sich. Rasch legte sie das Buch zurück, schloss die Schublade und durchquerte mit schnellen Schritten den Raum. Sie lugte durch die Türöffnung, sah niemanden im Gang, schaltete das Licht aus und verließ das Zimmer. In dem Moment, als sie die Tür abschloss, kam Sampson um die Ecke.
«Elizabeth!», rief er. «Was machst du da?»
«Ich … ich dachte, ich hätte etwas gehört.» Elizabeth schaute hinter sich zu Gracellas Tür.
Sampson kam zu ihr und blieb neben ihr stehen. Mit zusammengekniffenen Augen fixierte er die Tür, als ob er allein durch die Macht der Konzentration herausfinden könnte, ob sich jemand in dem Zimmer befand. Dann wandte er sich mit einem Lächeln an Elizabeth und sagte: «Vielleicht hast du nur den Sturm draußen gehört. Der Raum ist verschlossen.»
Zögernd erwiderte sie sein Lächeln. «Das wird es sein. Der Sturm.»
Ein unbehagliches Schweigen senkte sich über den Gang.
«Sag mal, war die Werkstatttür offen?», fragte Elizabeth. Der Schlüssel in ihrer Tasche fühlte sich bleischwer an, und ihr wurde klar, dass sie ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zurückbringen musste.
«Ganz richtig», grinste Sampson. «Mr. Norbridge will, dass ich …» Er schlug die Hand vor den Mund, ließ sie wieder sinken und sagte: «Nun, das wirst du schon bald sehen. Meine Lippen sind versiegelt.»
Elizabeth lachte erleichtert. Sie war froh, dass sie nicht länger über Zimmer 333 redeten.
«Ich verstehe schon, Sampson», sagte sie. «Hier ist doch ständig irgendwas los.»
Er nickte ihr zu. «Da hast du recht.» Und mit einem letzten Blick auf Zimmer 333 sagte er: «Aber jetzt muss ich mich wieder an die Arbeit machen. Und du solltest dich nicht in diesem Gang herumtreiben.»
«Einverstanden. Ich folge dir», sagte sie leichthin. Und als sie hinter Sampson durch den Korridor ging und er ihr erklärte, wie herrlich das Osterfest im Winterhaus werden würde, kreiselte ein einziger Gedanke durch Elizabeths Kopf: Damien Crowley hatte das Buch für Gracella dort hingelegt. Unter diesem Gedanken lag ein anderer, tieferer, einer, der nicht so leicht zum Schweigen gebracht werden konnte, weil er den Worten, die sie sich selbst oft sagte, einfach zu ähnlich war: Eines Tages wirst du allen zeigen, was sie nicht erkannt haben.
KAPITEL 7
ES SENKT SICH ERSCHROCKENE STILLE ÜBER DEN SAAL
Der Wintersaal sah wie immer festlich und fröhlich aus. Auf den mit blütenweißen Tischdecken überzogenen runden Tischen waren glänzende, edle Porzellanteller gedeckt, und die Kronleuchter funkelten wie Sternenhaufen, die hoch oben an der Decke schwebten. Die großen Fenster spiegelten so viel Licht und Farbe wider, dass der weitläufige Saal endlos erschien. Das Einzige, was auffiel, war der Umstand, dass nicht jeder Platz besetzt war. Wenn jemand daran gezweifelt hätte, dass Mitte März für das Hotel und seine Angestellten die ruhigste Zeit des Jahres war, hätte er sich mit einem Blick in den Wintersaal selbst davon überzeugen können. Im Kamin am vorderen Ende des Raums prasselte zwar ein fröhliches, nach Tannenholz duftendes Feuer und die wohlklingenden Töne von Bachs Goldberg-Variationen plätscherten aus unsichtbaren Lautsprechen in den vier Ecken des Saals, aber trotzdem konnte nichts darüber hinwegtäuschen, dass der Raum nur halb voll war.
Elizabeth trat durch eine kleine Seitentür und betrachtete die üppig gedeckten Tische. Sie aß alle Mahlzeiten hier, wenn sie nicht in der Schule war, aber der Anblick – und vor allem der Gedanke, dass dieses großartige Hotel jetzt ihr Zuhause war und sie nie wieder nach Drere zurückkehren musste – fühlte sich immer noch neu und fantastisch an. Sie zupfte ihren Pullover zurecht und horchte auf, als der wütende Sturm gegen die Fenster des Saals drückte. Während der vergangenen Stunde hatte sie sich allmählich dazu durchgerungen, jeden Groll gegen Norbridge beiseite zu lassen, und sie beschloss, zumindest für den Augenblick nicht mehr daran zu denken, dass sie sich in Gracellas Zimmer geschlichen hatte. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass ihr Geist überquoll vor Grübeleien, und sie wollte einfach nur das Abendessen im Wintersaal genießen.
«Wir sollten uns schnell einen Platz sichern, bevor alles besetzt ist», sagte jemand hinter ihr. Elizabeth drehte sich um. Vor ihr stand Leona Springer, die Bibliothekarin des Hotels und die Person, mit der Elizabeth am vertrautesten war. Es lag nicht nur daran, dass Leona Bücher genauso liebte wie sie, Elizabeth konnte auch mit ihr über fast alles reden, selbst über die Probleme, die sie zuerst selbst zu lösen versuchte, ehe sie damit zu Norbridge ging. Leona schien