mit schwarzer Magie von der Straße drängte. So jedenfalls erzählte es mir Elana.»
Elizabeth fühlte, wie ihr Magen nach unten sackte. Während der letzten Weihnachtsferien hatte Norbridge ihr erzählt, was er über den Tod ihrer Eltern, Winnie und Ferland Somers, herausgefunden hatte. Sie waren bei einem mysteriösen Autounfall ums Leben gekommen, als Elizabeth vier Jahre alt war.
«Auf ein Detail, das Elana mir anvertraute, wäre ich niemals von selbst gekommen», fuhr Norbridge fort. «Sie sagte mir, dass Gracella ihre Lebenskraft dann am besten auffrischen kann, wenn sie … nun, es gibt keine Möglichkeit, die Sache zu beschönigen … wenn sie das Leben eines Mitglieds der Falls-Familie auslöscht. Ich dachte, sie sei einfach nur eine skrupellose Mörderin, die ihre Macht dadurch behält, dass sie wahllos andere tötet. Aber es stellt sich heraus, dass jemand mit dem Blut ihrer eigenen Familie für sie das ideale Opfer darstellt.» Norbridge schloss die Augen und erschauerte. «Allein darüber nachzudenken ist schrecklich, geschweige denn, darüber zu reden.»
Elizabeth schlug die Hände vors Gesicht. Sie dachte an ihre armen Eltern, an das Feuer und die Geräusche des Unfalls; die Erinnerung daran war nur verschwommen in ihrem Geist.
Sie ließ die Hände wieder sinken. «Warum bin ich nicht auch gestorben?»
Norbridge hob einen Finger und hielt für einen Moment inne. «Vielleicht, weil du die Letzte oder die Jüngste bist oder aus einem anderen Grund, der mir noch nicht klar ist. Aber sie konnte dich nicht zusammen mit deinen Eltern vernichten. Im Gegenteil: Als sie ihre Macht einsetzte, um euch alle drei loszuwerden, wäre sie dabei fast umgekommen. Im letzten Moment hat sie sich selbst gerettet, und zwar mit …»
«… der Dredforth-Methode?», fiel ihm Elizabeth ins Wort.
«Korrekt. Gracellas Helfershelfer – und ich bin mir ganz sicher, dass Selana und ihr Ehemann an vorderster Front standen – haben ihren Körper bewahrt. Elana erklärte mir auch, wie ihre Familie versuchte, dich dazu zu bringen, die Macht deiner Halskette für ihre Zwecke zu aktivieren.» Er tippte sich an die Schläfe. «Wir haben Glück, dass du nicht nur clever bist, sondern auch die Willenskraft hattest, allen Attacken zu widerstehen. Du hast Winterhaus schon zum zweiten Mal gerettet.»
Elizabeth fühlte, wie ihre Traurigkeit einer unbändigen Wut wich. Sie stellte sich vor, wie Gracella, Selena und all die anderen ihre bösen Pläne schmiedeten, einzig zu dem Zweck, sich einen Vorteil zu verschaffen und Winterhaus sowie die Menschen, die Elizabeth liebte, ins Unglück zu stürzen.
«Aber ich konnte meine Eltern nicht retten», sagte sie scharf.
«Du warst vier Jahre alt. Und Gracella war eine mächtige Zauberin.»
«Ich bin die einzige Überlebende.» Elizabeth hob die Stimme ein wenig und starrte Norbridge an. «Und vielleicht ist Gracella immer noch nicht wirklich tot.»
Norbridges Miene wurde ganz ruhig und seine Stimme sanft. «Elizabeth», flüsterte er.
Aus irgendeinem Grund regte sie das noch mehr auf, und trotz des Versuchs ihres Großvaters, sie zu trösten und zu beruhigen, geriet ihr Blut in Wallung. Das Gefühl erhob sich – ungebeten, wie es manchmal passierte, wenn sie es nicht kontrollieren konnte –, und sie lenkte ihren zornigen Blick auf ein Buch auf dem kleinen Tisch vor dem Sofa. Mit einem Aufbrausen flog das Buch vom Tisch und knallte links von Elizabeth gegen die Wand, ehe es auf den Teppich fiel. Elizabeth hatte das nicht kommen sehen und war erschrocken – aber ein Teil von ihr war auch sehr zufrieden mit sich selbst. Dieses Gefühl von Macht war erregend. Mit einem erwartungsvollen, triumphierenden Gesicht schaute sie Norbridge an, obwohl sie den Vorfall nicht bewusst ausgelöst hatte.
Er allerdings blickte sie streng an, die Stirn drohend gerunzelt. Warnend richtete er einen Finger auf sie. «Tu das nicht!», fuhr er sie heftig an.
Elizabeth war wie vor den Kopf gestoßen. «Aber ich …»
«Ich sagte: Tu das nicht!», wiederholte Norbridge, noch lauter diesmal. «Du musst dich beherrschen. Zu jeder Zeit!»
Die Heftigkeit von Norbridges Reaktion verunsicherte Elizabeth, aber das Gefühl von Zufriedenheit über ihre eigene Macht war immer noch nicht gewichen. «Worüber regst du dich so auf?», fragte sie.
«Weil mir das nicht gefällt», sagte Norbridge und hob die Hand. «Meine Schwester hat solche Dinge getan, als sie in deinem Alter war. Ich mochte es bei ihr nicht, und bei dir mag ich es noch viel weniger.» Wieder hob er warnend die Hand. «Sie hat sich hinreißen lassen.»
Elizabeth verspürte den Drang zu erklären, dass er unmöglich diese Befriedigung verstehen konnte, die sie empfunden hatte, als sie das Buch gegen die Wand geschleudert hatte. Etwas an diesem Gefühl weckte in ihr beinahe eine Art Verständnis dafür, warum Gracella sich hatte «hinreißen lassen».
«Du hast mir gesagt, dass niemand im Winterhaus ihr zugehört hat», sagte Elizabeth mit mehr Erbitterung, als sie beabsichtigt hatte. «Vielleicht war sie bloß …» Elizabeth bereute die Worte, sobald sie ausgesprochen waren, auch wenn sie den Satz nicht vollendete. Norbridges Stirn legte sich in noch tiefere Falten, und er bedachte sie mit einem Blick, als würde er sie nicht wiedererkennen. Schweigen hing zwischen ihnen, dann stand Norbridge auf und ging zu dem Buch, das noch immer auf dem Boden lag. Langsam bückte er sich, hob es auf und legte es vorsichtig wieder auf den Tisch, mit der Vorderseite nach oben. Der Titel lautete Die Chroniken von Nord-Sembla.
«Ich werde vergessen, was eben vorgefallen ist», sagte er. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und widmete sich ein paar Unterlagen, ohne Elizabeth noch einmal anzuschauen. «Wir treffen uns um halb acht vor Elanas Zimmer.» Plötzlich schien er sehr beschäftigt zu sein.
Nach einer ganzen Weile, in der niemand mehr etwas sagte, stand Elizabeth auf und verließ schweigend das Zimmer.
KAPITEL 6
EIGENE WEGE HEIMLICH GEHEN
Elizabeth war verwirrt – sie schämte sich und fühlte sich gleichzeitig ungerecht behandelt –, und als sie vom dreizehnten Stock über die Treppe nach unten ging, war sie sich nicht schlüssig, was sie am meisten aufwühlte: die unangekündigte Manifestation ihrer Macht, die Aussicht auf ein Gespräch mit Elana oder die Neuigkeiten über ihre Eltern. All das hatte sie tief getroffen, besonders nach dem merkwürdigen Ereignis an der Ripplington Mine.
Aber musste Norbridge gleich so wütend werden?, dachte sie. Natürlich hatte sie ihn schon früher zornig erlebt, aber diesmal schien es ernster zu sein als sonst.
Sie grübelte weiter darüber nach und merkte, wie sich ihre Laune immer mehr verschlechterte. Den Rat, den Leona ihr einmal gegeben hatte – dass nicht andere ihre Gefühle kontrollieren, sondern nur sie selbst –, ließ sie nicht an sich heran. Und dann, als sie in den Flur im dritten Stock trat, sah sie, dass Freddys Werkstatttür offenstand. Abrupt blieb sie stehen, schaute sich um und überlegte, was es bedeuten konnte, dass ein Zimmer, das seit der Silvesternacht verschlossen gehalten wurde, plötzlich wieder zugänglich war. Vor fast drei Monaten war sie zum letzten Mal in der Werkstatt gewesen, als sie und Freddy den vierten und letzten Eingang in die geheimen Gänge unter dem Hotel hinter einer Wand aus Kisten gefunden hatten. Durch diesen Eingang hatten sich Gracella, Selena und Elana in die Tunnel geschlichen.
Elizabeth stand da und lauschte. Dann ging sie leise weiter, ohne den Blick von der Werkstatttür abzuwenden. Von drinnen kam kein Geräusch, und sie verspürte auch keinen Hauch des Gefühls in sich. Sie berührte leicht den Türgriff und trat dann in den Raum, der noch genauso aussah wie beim letzten Mal: eine Werkbank in der Mitte, die Werkzeuge an den Wandhaken, jede Menge Holzplanken und Sägeböcke und überall Schränke und Regale. Die einzige Veränderung war, dass der vierte Eingang nun vollkommen zugemauert war. Elizabeth starrte die Wand an: Wenn irgendjemand noch einmal versuchen sollte, in die Tunnel zu gelangen, dann garantiert nicht von hier aus.
Sie