an Freddy mochte, war der Umstand, dass er trotz des Reichtums seiner Eltern nicht hochnäsig und arrogant war, sondern im Gegenteil sehr nett und außerdem unglaublich intelligent. Er war ein erstklassiger Erfinder, der nicht nur die Camera obscura wieder zum Laufen gebracht, sondern auch im Jahr zuvor das «WalnussWunderWarm» erfunden hatte, ein brennbares Scheit aus gepressten Walnussschalen. Elizabeth fand, dass sie und Freddy sich in vielerlei Hinsicht ähnelten – hauptsächlich, weil sie beide von Natur aus neugierig und ganz verrückt waren nach allem, was mit Anagrammen, Codes, Rätseln und allerlei Wortspielen zu tun hatte. Sie waren schon im ersten Jahr im Winterhaus beste Freunde geworden.
Als sie ihren Laptop einschaltete, schaute sie zum Fenster, an dem die Vorhänge zurückgezogen waren. Im Schein der Lampen vor dem Hotel schwebte der Schnee durch das nachmittägliche Zwielicht wie Gischt von der Brandung einer Atlantikküste. Die Flocken waren überall, sausten in dichten Wolken durch den dunkler werdenden Himmel. Der Wind drückte gegen die Fensterscheibe, und Elizabeth zog ihren Pullover enger über die Schultern und wandte sich ihrem Computer zu, um Freddys E-Mail zu lesen:
Ihr obenauf stellend! Ähm, ich meine natürlich: Hallo beste Freundin! (Nur für den Fall, dass du das Anagramm nicht selbst lösen konntest …) Ich hoffe, deine Woche war besser als meine. Am Montag habe ich meine Brille zerbrochen. Am Dienstag sollte mich mein Dad eigentlich zu einem Hockeyspiel mitnehmen, aber dann sagte er, er könnte nicht mitkommen, also musste ich stattdessen mit unserem Chauffeur gehen. Aber das war lustig. Jacques ist ein echt netter Kerl, und wir haben jede Menge Popcorn gegessen, und ich habe drei Eiscreme-Sandwiches gefuttert. Aber die Albatrosse haben im Penaltyschießen verloren, was nicht so gut war. Und am Mittwoch habe ich eine Erkältung bekommen. Wenigstens war gestern ein guter Tag; wir haben unsere Halbjahresnoten bekommen, und ich habe überall eine 1. Manche Dinge ändern sich nie. Sollte ein Scherz sein! (Na ja, eigentlich stimmt es ja, zumindest in dieser Beziehung. Was macht denn bei dir die Schule?)
Und wie läuft es im Winterhaus? Klappt alles mit der Camera obscura? Hast du mittlerweile sechstausend von den Büchern der Bibliothek gelesen oder erst fünftausend? Geht es Norbridge gut? Und Leona? Und allen anderen? Ich bin immer noch ziemlich neidisch, dass du da wohnen darfst, aber ich freue mich auch für dich. Vielleicht kannst du Norbridge fragen, ob ich auch bei euch einziehen darf. (Wink mit dem Zaunpfahl: Oh bitte, ja, ja. Machst du das? Bitte?!?)
Ich habe ein bisschen geforscht, und hier sind ein paar Updates für dich. Mach dich bereit, vor Ehrfurcht auf die Knie zu sinken: Fred – Rufe – Kufe – Fuge – Flug – Klug. Du weißt, was ich meine, nicht wahr? Aber mal was anderes: Ich habe mir diese Website über Ahnenforschung angeschaut, von der ich dir erzählt habe – wogenauduherkommst.com –, um herauszufinden, ob es zwischen den ganzen Leuten, die Gracella geholfen haben, irgendwelche Verbindungen gibt. Also, wir wissen Folgendes: Riley Granger (oder, wie ich ihn nenne: «Der Typ, der vor langer, langer Zeit all die verrückten und rätselhaften Dinge im Winterhaus erschaffen hat, nur um uns in den Wahnsinn zu treiben») war der Vater von Ruthanne Sweth Granger, die Monroe Hiems heiratete. Ihr Sohn war Marcus Hiems (der aus diesem Grund die Geschichten über das Buch kannte) und der wiederum Gracellas Tochter Selena Winters heiratete. Außerdem heiratete Rileys Cousine Jenora Sweth einen Kerl namens Peter Powter, und die beiden bekamen einen Sohn, Ernest Powter, den Vater von Rodney und Elana. Die Powters sind mit Selena verwandt, weshalb sie so gut über Winterhaus Bescheid wussten. Aber ich habe Neuigkeiten: Peter Powter hatte eine Schwester namens Patricia, und sie war diejenige, deren Namen du in dem alten Gästebuch gefunden hast! Du weißt schon, die Frau, die mit dem alten Riley Granger im Winterhaus war. Unheimlich, was? Und interessant!
Und noch etwas habe ich herausgefunden. Zwar hatte ich keinen Erfolg in meiner Recherche über die Dredforth-Methode, aber vor ein paar Tagen bin ich auf einer Website mit dem Titel «Der blutrote Skarabäus» gelandet. Ich weiß nicht, wer das ganze Zeug zusammengestellt hat, aber es geht von vorne bis hinten nur um Magie. Ich habe dir das Wichtigste rausgeschrieben:
Der schottische Scharlatan und Bösewicht Aleister Winters deutete wiederholt an, dass er und sein Zirkel das Geheimnis des ewigen Lebens durch ein Ritual ergründet hätten, das er die «Dredforth-Methode» nannte. Winters glaubte, dass sich Seelen von menschlichen Körpern lösen und später wieder in sie einkehren könnten, wenn die Umstände optimal seien. Aber Winters behauptete, dass im Falle eines Todes die «unbehauste Seele» spätestens am Abend des dritten Vollmonds nach dem Dahinscheiden der Person mit dem Körper wieder vereint werden müsse, ansonsten sei sie für immer verloren. Der Schriftsteller Damien Crowley, der in den 1950ern dem Einfluss von Aleister Winters erlag, soll angeblich das Geheimnis der Dredforth-Methode in einem unveröffentlichten Roman verraten haben. Die meisten Wissenschaftler halten die ganze Geschichte um Winters und Crowley für reinen Humbug.
Irre, oder? Im Grunde genommen ist es so, dass Gracellas Mann diese magische Zeremonie entwickelt hat, über die wir beide mehr erfahren wollen, und dann hat Damien Crowley ein Buch darüber geschrieben. Wir müssen dringend miteinander reden, findest du nicht auch?
Okay, ich muss los. Oh, und bitte lass mir ein paar Flurschen übrig. Ich hoffe, meine Eltern ändern nicht wieder in letzter Minute ihre Meinung, wie an Weihnachten. Aber selbst wenn, dann werde ich dafür sorgen, dass sie wenigstens mich kommen lassen!
Bis bald,
Freddy.
PS: Ich hoffe wirklich, dass es Elana besser geht.
Elizabeth war sprachlos. Sie hatte zum ersten Mal in einem Brief, den sie vor zwei Jahren im Hotelzimmer von Selena Hiems gefunden hatte, über die Dredforth-Methode gelesen. Unterschrieben war der Brief nur mit dem Buchstaben D. Und obwohl sie keine Ahnung hatte, was es mit dieser Methode auf sich hatte, wusste sie genau, dass es sich um eine Magie handelte, mit der man Seele und Körper einer Person voneinander trennen konnte, um beides zu erhalten, wenn auch in einem geschwächten und beschränkten Zustand. Elizabeth hatte die halbe Bibliothek auf den Kopf gestellt, ohne dass es ihr gelungen war, mehr darüber in Erfahrung zu bringen.
Sie stand auf und ging zum Fenster. Der Schneefall schien noch dichter geworden zu sein. Sie zog die Vorhänge zu und kehrte zu ihrem Laptop zurück, um eine Google-Suche nach dem aktuellen Mondzyklus zu starten. Auf dem Bildschirm erschien eine Tabelle mit Daten, und es dauerte nicht lange, da dämmerte ihr eine schreckliche Erkenntnis: Der dritte Vollmond nach Gracellas Tod ist in zwei Wochen – in der Nacht vor Ostern.
Am liebsten hätte sie Freddy eine Antwort geschrieben und seine Entdeckung kommentiert und ihm außerdem erzählt, was sie an der Mine erlebt hatte und wie froh sie war, dass er bald hier sein würde. Aber sie wollte sich nicht verspäten. Sie konnte kaum erwarten zu erfahren, was mit Elana los war, und sie musste Norbridge unbedingt von dem roten Schimmer berichten, den sie im Schnee über der verlassenen Mine beobachtet hatte.
Und auch von der Dredforth-Methode, dachte sie. Ich werde Norbridge erzählen, was Freddy herausgefunden hat.
Sie klappte den Computer zu, stand auf und machte sich auf den Weg zum dreizehnten Stock.
KAPITEL 5
EINE RÜGE FÜHLT SICH UNGERECHT AN
Elizabeth klopfte an die Tür des Observatoriums, und als sie ein herzliches «Herein!» hörte, trat sie ein. Das Zimmer war klein und nur spärlich möbliert, doch das Messingteleskop auf dem verglasten Balkon war sehr beeindruckend. Norbridge hatte Elizabeth schon alles Mögliche gezeigt, von den Ringen um den Saturn bis zum weit entfernten Berg Mount Arbaza. Der aufregendste Anblick durch das Teleskop war für Elizabeth aber immer noch die Statue von Winifred, ihrer Mutter, auf der anderen Seite des Lake Luna. Der Weg dorthin war noch nicht frei, aber Elizabeth hoffte, dass sich das bald ändern würde. Sie konnte es kaum erwarten.
«Elizabeth, meine Liebe!», sagte Norbridge, der durch die Tür am Ende des kurzen Flurs trat, gleich neben